BVerfG: Berücksichtigung der Grundrechte eines Kindes bei Entscheidung über seine Herausgabe von Pflegeeltern an leibliche Eltern

BVerfG: Berücksichtigung der Grundrechte eines Kindes bei Entscheidung über seine Herausgabe von Pflegeeltern an leibliche Eltern

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 21. Oktober 2009 – II-12 UF 283/08 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes.

2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

3. Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 € (in Worten: fünftausend Euro) festgesetzt.

Gründe:

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde des durch eine Ergänzungspflegerin vertretenen minderjährigen Beschwerdeführers ist die gerichtliche Entscheidung, dass seine Pflegeeltern ihn an seine leiblichen Eltern herauszugeben haben.

1. Der im Juli 2006 geborene Beschwerdeführer kam im Alter von sechs Wochen erstmals wegen einer Weichteilinfektion an der rechten Hüfte und am rechten Oberschenkel aufgrund – wie nachträglich angenommen wurde – gewaltsamer Verdrehungen für neun Tage ins Krankenhaus. Im Alter von zehn Wochen wurde er nach einem cerebralen Krampfanfall drei Wochen stationär behandelt wegen lebensbedrohlicher subduraler Hirnblutungen unterschiedlichen Alters, deren Ursache schwere physische Misshandlungen (Schütteltrauma) waren. Nach seiner Entlassung kam der Beschwerdeführer zunächst in eine Bereitschaftspflegefamilie und ab dem 11. Februar 2007 in die Dauerpflege zu Pflegeeltern, bei denen er bis heute lebt.

Die Eltern und die Großeltern beiderseits, von denen er gelegentlich betreut worden war, verneinen eine Misshandlung. Das gegen die Eltern eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde Ende August 2007 eingestellt, weil der Schuldige nicht ermittelt werden konnte.

a) Einige Tage nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens beantragten die mittlerweile gemeinsam sorgeberechtigten leiblichen Eltern beim Familiengericht die Herausgabe des Beschwerdeführers zunächst an die Großeltern väterlicherseits. Im Verlauf des Verfahrens änderten sie ihr Begehren im Sinne einer Herausgabe an sich und nur noch hilfsweise an die Großeltern. Die Pflegeeltern beantragten, das Verbleiben des Beschwerdeführers bei ihnen anzuordnen.

Die Eltern des Beschwerdeführers haben im April 2008 noch eine Tochter bekommen, die bei ihnen lebt.

Das Amtsgericht bestellte eine Verfahrenspflegerin und holte ein kinderpsychologisches Gutachten ein. Mit Beschluss vom 12. November 2008 wies es die Herausgabeanträge der Eltern zurück und ordnete das Verbleiben des Beschwerdeführers bei den Pflegeeltern an. Dem bei dem Beschwerdeführer aufgrund der Geschehnisse festzustellenden Nachholbedarf in der frühkindlichen Entwicklung sei in jeder Hinsicht Rechnung zu tragen. Ein erneuter Beziehungsabbruch sei ihm im Hinblick auf das von dem Sachverständigen dargelegte erhöhte Risiko für eine suboptimale Entwicklung in allen Bereichen nicht zuzumuten.

b) Auf die gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde der leiblichen Eltern holte das Oberlandesgericht eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen ein, bei der auch die Kindeseltern und Großeltern väterlicherseits in die Begutachtung einbezogen wurden. Nach mündlicher Erläuterung des Gutachters änderte das Oberlandesgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 21. Oktober 2009 die amtsgerichtliche Entscheidung dahingehend ab, dass den Pflegeeltern die Herausgabe des Beschwerdeführers an seine Eltern bis spätestens zum 31. Januar 2010 aufgegeben wurde.

Die Voraussetzungen für eine Verbleibensanordnung lägen nicht vor. Zunächst könne ein schwerwiegendes Fehlverhalten der Eltern nicht festgestellt werden, da das Strafverfahren wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung eingestellt worden sei und weitere Erkenntnismöglichkeiten nicht ersichtlich seien.

Der Umstand, dass die Trennung des Beschwerdeführers von seinen Pflegeeltern für ihn eine erhebliche psychische Belastung bedeute, sei kein ausreichender Grund, den Verbleib des Kindes im Haushalt der Pflegeeltern anzuordnen. Dabei verkenne der Senat in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen nicht, dass der Beschwerdeführer keine Bindungen zu seinen leiblichen Eltern habe. Das führe zum einen dazu, dass dem Kind ein Neuaufbau der bisher vorhandenen Orientierungen zugemutet werde. Zum anderen verliere der Beschwerdeführer seine wichtigsten  fürsorgenden Bezugspersonen. Das begründe durchaus eine Gefährdung des Kindeswohls: Bindungsabbrüche wirkten sich in vielen Entwicklungsbereichen negativ aus und bedeuteten einen gravierenden Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen. Die entscheidende Frage sei danach, ob die Kindeswohlgefährdung ein Ausmaß habe und Schäden für das Kind mit einer Wahrscheinlichkeit zu besorgen seien, die es verlangten, den Kindesinteressen, aber auch den Interessen der Pflegeeltern unbedingten Vorrang vor denen der leiblichen Eltern zu geben. Das könne der Senat nicht feststellen.

Der Sachverständige habe ausgeführt, dass eine Gefährdung des Kindeswohls nicht zwangsläufig eintreten müsse. Er habe dargelegt, dass es immer wieder Kinder gebe (zwischen 25 und 30 %), die trotz mehrfacher Risikofaktoren keine erheblichen Störungen aufwiesen. In seinem schriftlichen Gutachten sei der Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen, dass sich nicht genau vorhersagen lasse, ob der Beschwerdeführer aufgrund des Bindungsabbruchs psychische Störungen entwickeln werde. Auf jeden Fall werde aber die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung solcher Störungen durch einen Abbruch der Bindungen deutlich steigen. Diese Einschätzung habe der Sachverständige auch bei seiner persönlichen Anhörung nicht konkretisieren können. Er habe insbesondere der Gefahr psychischer Störungen keinen Grad der Wahrscheinlichkeit zuordnen können. Die Lebensentwicklung lasse sich nicht vorhersagen.

Nach allem könne zwar davon ausgegangen werden, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spreche, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Trennung von seinen Pflegeeltern psychische Störungen entwickeln werde. Immerhin bestehe aber die erhebliche Chance, dass das Kind sich unauffällig verhalten werde oder auftretende psychische Auffälligkeiten jedenfalls nicht das Ausmaß einer Erkrankung erreichten. Bei dieser Sachlage sei es nicht vertretbar, den leiblichen Eltern die Betreuung und Erziehung des Kindes vorzuenthalten. Nach den Feststellungen des Sachverständigen sei davon auszugehen, dass die leiblichen Eltern mit den Schwierigkeiten des Beschwerdeführers einfühlsam umgehen könnten und dass sie bereit und fähig seien, intensive fachliche Beratung in Anspruch zu nehmen, um ihre Erziehungsfähigkeit zu fördern. Auch bestünden zwischen den leiblichen Eltern und den Pflegeeltern in erforderlichem Maße Kooperationsmöglichkeiten und Kooperationsbereitschaft.

Die Befristung der Herausgabeanordnung beruhe darauf, dass es das Kindeswohl erfordere, dass der Wechsel des Beschwerdeführers aus dem Haushalt der Pflegeeltern in den der Elternforderlich, dass das Jugendamt die Beteiligten unterstütze.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde, die die durch das Amtsgericht auch zur Ergänzungspflegerin für das Verfassungsbeschwerdeverfahren bestellte Verfahrenspflegerin im Namen des Beschwerdeführers eingelegt hat, wird eine Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 6 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG durch die angegriffene Entscheidung gerügt.

a) Mit Beschluss vom 23. Dezember 2009 änderte das Oberlandesgericht den amtsgerichtlichen Beschluss, mit dem die im fachgerichtlichen Verfahren tätige Verfahrenspflegerin zur Ergänzungspflegerin für das Verfassungsbeschwerdeverfahren bestellt worden ist, dahingehend ab, dass eine andere Ergänzungspflegerin bestellt wurde. Diese hat mit einem am 8. Januar 2010 eingegangenen Faxschreiben die anhängige Verfassungsbeschwerde und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung genehmigt.

b) Die Kammer hat mit Beschluss vom 13. Januar 2010 die Wirksamkeit des Beschlusses des Oberlandesgerichts bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für sechs Monate ausgesetzt.

c) Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen der Kammer vor.

Die Verfassungsbeschwerde wurde der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, den Eltern des Beschwerdeführers und den Pflegeeltern zugestellt. Die Kindesmutter hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig und unbegründet. Die Pflegeeltern erachten sie für begründet.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geboten (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

a) Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geltend macht. Soweit sich der Beschwerdeführer darüber hinaus auch auf seine Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG beruft, ist eine mögliche Grundrechtsverletzung durch die angefochtene Entscheidung nicht hinreichend substantiiert dargelegt (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG).

Die Verfassungsbeschwerde wurde fristgerecht erhoben (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), da die für den minderjährigen Beschwerdeführer durch Beschluss des Oberlandesgerichts vom 23. Dezember 2009 bestellte Ergänzungspflegerin die Verfassungsbeschwerde mit am 8. Januar 2010 eingegangenem Schriftsatz genehmigt hat. Hinsichtlich des Beginns des Laufes der Frist ist auf die Kenntnis des Ergänzungspflegers von der angegriffenen Entscheidung und nicht auf die des Beschwerdeführers abzustellen (vgl. BVerfGE 75, 201 <215>; 99, 145 <156>; BVerfGK 8, 408
<415>).

Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht der Umstand entgegen, dass der Beschwerdeführer auch eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend macht, ohne eine Anhörungsrüge gemäß § 29a FGG (jetzt § 44 FamFG) erhoben zu haben. Denn ungeachtet der Frage der Zulässigkeit dieses Rechtsbehelfs im vorliegenden Fall sind hier die Voraussetzungen einer sofortigen Entscheidung nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gegeben. In Anbetracht der durch den angefochtenen Beschluss bis zum 31. Januar 2010 angeordneten Herausgabe des Beschwerdeführers an seine Eltern und der erst mit Beschluss des Oberlandesgerichts vom 23. Dezember 2009 erfolgten Bestellung der den Beschwerdeführer nunmehr vertretenden Ergänzungspflegerin ist die vorherige Einlegung einer Anhörungsrüge jedenfalls nicht zumutbar.

b) Der Beschwerdeführer wird durch die angegriffene Entscheidung in seinem Grundrecht auf Schutz und Achtung seiner Persönlichkeitsentfaltung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.

aa) Gemäß § 1632 Abs. 4 BGB kann das Familiengericht, wenn ein Kind seit längerer Zeit in Familienpflege lebt und die Eltern es von der Pflegeperson wegnehmen wollen, von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, dass das Kind bei der Pflegeperson bleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet wäre. Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, dass hiernach auch die Dauer des Pflegeverhältnisses zu einer Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB führen kann, wenn eine schwere und nachhaltige Schädigung des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens des Kindes bei seiner Herausgabe an die Eltern zu erwarten ist (vgl. BVerfGE 68, 176 <191 f.>).

Bei einer Entscheidung nach § 1632 Abs. 4 BGB, die eine Kollision zwischen dem Interesse der Eltern an der Herausgabe des Kindes und dem Kindeswohl voraussetzt, verlangt die Verfassung eine Auslegung der Regelung, die sowohl dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch der Grundrechtsposition des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung trägt. Im Rahmen der erforderlichen Abwägung der verfassungsrechtlich geschützten Rechte ist jedoch zu berücksichtigen, dass im Bereich des Art. 6 Abs. 2 GG das Wohl des Kindes immer den Richtpunkt bildet, sodass dieses bei Interessenkonflikten zwischen dem Kind und seinen Eltern letztlich bestimmend sein muss (vgl. BVerfGE 75, 201 <218>; 68, 176 <188>).

Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG (BVerfGE 24, 119 <144>). Es bedarf des Schutzes und der Hilfe, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln. Die Erziehung und Betreuung eines minderjährigen Kindes durch Mutter und Vater innerhalb einer harmonischen Gemeinschaft gewährleistet dabei am ehesten, dass dieses Ziel erreicht wird (vgl. BVerfGE 56, 363 <384>). Dies trifft jedoch nicht immer zu, insbesondere dann nicht, wenn Kinder in einer Pflegefamilie aufwachsen (vgl. BVerfGE 75, 201 <219>). In diesem Falle gebietet es das Kindeswohl, die neuen gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu berücksichtigen und das Kind aus seiner Pflegefamilie nur herauszunehmen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von seinen bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition des Kindes noch hinnehmbar sind (vgl. BVerfGE 79, 51 <64>).

Für ein Kind ist mit seiner Herausnahme aus der gewohnten Umwelt ein schwer bestimmbares Zukunftsrisiko verbunden. Die Unsicherheiten bei der Prognose sowie der Umstand, dass die Trennung von seinen unmittelbaren Bezugspersonen für das Kind regelmäßig eine erhebliche psychische Belastung bedeutet (vgl. BVerfGE 75, 201 <219>), dürfen nicht dazu führen, dass bei Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie die Wiederzusammenführung von Kind und Eltern schon immer dann ausgeschlossen ist, wenn das Kind seine „sozialen“ Eltern gefunden hat. Bei der Abwägung zwischen Elternrecht und Kindeswohl im Rahmen von Rückführungsentscheidungen nach § 1632 Abs. 4 BGB ist deshalb ein größeres Maß an Unsicherheit über mögliche Beeinträchtigungen des Kindes hinnehmbar als bei einem lediglich beabsichtigten Wechsel der Pflegefamilie, der mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nur vereinbar ist, wenn mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen oder physischen Schädigungen verbunden sein kann (vgl. BVerfGE 75, 201 <220>). Die Risikogrenze hinsichtlich der Prognose möglicher Beeinträchtigungen des Kindes ist allerdings auch bei der Entscheidung über eine Rückführung des Kindes zu seinen Eltern dann überschritten, wenn unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern psychische oder physische Schädigungen nach sich ziehen kann. Ein solches Risiko ist für das Kind nicht hinnehmbar.

Der Grundrechtsschutz beeinflusst auch weitgehend die Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts. Das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung geeignet und angemessen sein, um eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>).

Die Gerichte müssen sich im Einzelfall um eine Konkordanz der verschiedenen Grundrechte bemühen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 18. Februar 1993 – 1 BvR 692/92 -, FamRZ 1993, S. 662 <663>). Diesen Anforderungen werden sie nur gerecht, wenn sie sich mit den Besonderheiten des Einzelfalls auseinandersetzen, die Interessen der Inhaber des Elternrechts sowie deren Einstellung und Persönlichkeit würdigen und auf die Belange des Kindes eingehen (vgl. BVerfGK 9, 97 <104>).

bb) Diesen Maßstäben ist das Oberlandesgericht in der angegriffenen Entscheidung nicht gerecht geworden. Es hat vielmehr die Grundrechtsposition des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Umfang und Tragweite verkannt.

Mit der Herausgabe des Beschwerdeführers ist seine Trennung von den Pflegeeltern verbunden, bei denen er seit seinem siebten Lebensmonat gelebt hat. Diese Maßnahme ist von existentieller Bedeutung für seine weitere Entwicklung. An die Verfassungsmäßigkeit eines solchen Eingriffs sind daher strenge Anforderungen zu stellen: Neben der Frage, ob die angegriffenen Entscheidungen Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen, können deshalb auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 79, 51 <63>; 75, 201 <221 f.>).

(1) Das Oberlandesgericht trägt der Bedeutung der Grundrechtsposition des Beschwerdeführers nicht hinreichend Rechnung, wenn es die von dem Beschwerdeführer vor seiner Inobhutnahme erlittenen schweren Misshandlungen unter Hinweis auf die Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens völlig unberücksichtigt lässt. Es übersieht, dass diese Misshandlungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im engsten Familienkreis entweder durch ein Elternteil oder beide Eltern selbst oder aber durch die auch weiterhin als Betreuungspersonen zur Verfügung stehenden Großeltern erfolgt sind. Vor diesem Hintergrund drängt sich aber jenseits der strafrechtlichen Würdigung der Geschehnisse die von dem Oberlandesgericht nicht gewürdigte Frage auf, welchem Risiko erneuter Misshandlungen der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in seine Herkunftsfamilie ausgesetzt wäre. Zur Prüfung, ob hierin nach wie vor eine Kindeswohlgefährdung begründet liegt, besteht in gesteigertem Maße deshalb Anlass, weil sich an der damaligen Familiensituation, in der die Übergriffe geschehen konnten, zwischenzeitlich nichts maßgeblich geändert hat.

Vielmehr ist inzwischen mit der jüngeren Schwester des Beschwerdeführers nun noch ein weiteres Kleinkind hinzugekommen, sodass es bei der Betreuung beider Kinder vermehrt zu Stresssituationen kommen kann. Es ist aber nicht auszuschließen, dass solche Situationen Auslöser der damaligen Taten waren.

Das Oberlandesgericht hätte daher – gegebenenfalls unter Zuhilfenahme sachverständiger Unterstützung – prüfen müssen, inwieweit aus dem Umstand, dass dem Beschwerdeführer in der Obhut seiner Ursprungsfamilie die lebensbedrohlichen Verletzungen zugefügt worden sind, und eine Aufklärung der diesbezüglichen Ursachen nicht stattgefunden hat, auf eine fortdauernde Gefährdungslage zu schließen ist. Der Verweis auf die Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, in dem im Übrigen andere Untersuchungsmaßstäbe gelten als in einem familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren, vermag das durch die frühere Misshandlung indizierte Gewaltrisiko für das Kind nicht zu entkräften.

(2) Auch die weiteren Ausführungen des Oberlandesgerichts berücksichtigen die Belange des Beschwerdeführers nicht in hinreichendem Maße.

Der Senat stützt seine Entscheidung zur Herausgabe des Beschwerdeführers an seine Eltern darauf, dass sich laut dem gerichtlich bestellten Sachverständigen nicht genau vorhersagen lasse, ob beziehungsweise mit welcher Wahrscheinlichkeit der Beschwerdeführer aufgrund des Bindungsabbruchs psychische Störungen entwickeln werde, und dass immerhin auch die „erhebliche Chance“ bestehe, dass der Beschwerdeführer sich unauffällig verhalten könnte oder auftretende psychische Auffälligkeiten jedenfalls nicht das Ausmaß einer Erkrankung annehmen würden. Diese Begründung wird der Bedeutung des Kindeswohls nicht gerecht.

Die im Rahmen der Entscheidung über eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB zu beantwortende Frage, ob das Kindeswohl durch die Wegnahme aus der Pflegefamilie nachhaltig gefährdet würde, erfordert regelmäßig eine auf die Zukunft bezogene Prognoseentscheidung, die zwangsläufig mit Ungewissheiten behaftet ist. Zwar darf diese Prognoseunsicherheit unter Berücksichtigung des den Eltern durch Art. 6 Abs. 2 GG gewährleisteten Rechts auf Pflege und Erziehung ihres Kindes nicht dazu führen, dass eine Rückkehr des Kindes zu seinen Eltern schon dann unterbleibt, wenn nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Herausnahme des Kindes aus seiner Pflegefamilie zu einer psychischen oder physischen Schädigung des Kindes führt (vgl. BVerfGE 75, 201 <221>). Umgekehrt aber wird ein Verständnis von § 1632 Abs. 4 BGB, das eine Verbleibensanordnung von einer mit Sicherheit zu erwartenden Kindeswohlschädigung bei Rückkehr des Kindes zu seinen Eltern abhängig macht, der Grundrechtsposition des betroffenen Kindes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht gerecht. Diesen, das Kindeswohl nicht hinreichend berücksichtigenden Maßstab wendet das Oberlandesgericht jedoch an, wenn es meint, dass der Beschwerdeführer seinen Eltern nicht vorenthalten werden darf, obwohl der Eintritt psychischer Störungen beim Beschwerdeführer überwiegend wahrscheinlich ist, jedoch die Restmöglichkeit verbleibt, dass dies dennoch nicht eintritt.

Der Beschluss lässt zudem nicht erkennen, dass das Gericht alle im Hinblick auf die Grundrechtspositionen der Beteiligten wesentlichen Gesichtspunkte hinreichend gewichtet hat. Zwar hat es den Umstand hervorgehoben, dass der Beschwerdeführer keine Bindungen zu seinen leiblichen Eltern hat und im Falle einer Rückkehr in seine Ursprungsfamilie seine wichtigsten (und bislang wohl einzigen) Bezugspersonen verlieren würde. Dem angegriffenen Beschluss ist zu entnehmen, dass sich hieraus eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür ergibt, dass der Beschwerdeführer – über die regelmäßig mit einer Trennung verbundene psychische Belastung hinaus – im Falle einer Herausnahme aus der Pflegefamilie Störungen mit Krankheitswert entwickeln wird. Das Gericht versäumt es jedoch, die Bedeutung dieses Risikos für die künftige Entwicklung des Beschwerdeführers näher zu prüfen und zu gewichten. Ungewürdigt bleiben hierbei zudem die von dem Beschwerdeführer frühkindlich erlittenen Hirnverletzungen, die laut dem gerichtlichen Sachverständigen einen zusätzlichen Risikofaktor mit letztlich nicht absehbaren Folgen bilden. Auch setzt sich das Oberlandesgericht nicht damit auseinander, dass der Beschwerdeführer bereits durch den Wechsel von der Bereitschaftspflegefamilie zu seinen jetzigen Pflegeeltern im Alter von knapp sieben Monaten einen Beziehungsabbruch zu verkraften hatte, was den im Falle der Rückkehr zu seinen Eltern notwendigen Aufbau neuer Bindungen zusätzlich erschwert.

Soweit das Oberlandesgericht im Übrigen auf die Ausführungen des Sachverständigen zur Resilienz von 25 bis 30 % der Kinder abstellt, die wie der Beschwerdeführer von mehreren Risikofaktoren betroffen sind, lässt es unerwähnt, dass sich die dieser Aussage zugrundeliegenden Untersuchungen nicht auf die Fälle von Bindungsabbrüchen konzentriert haben. Zudem hat der Sachverständige in seinem ergänzenden Gutachten darauf hingewiesen, dass diese Resilienz mit dem gleichzeitigen Vorhandensein von Schutzfaktoren erklärt werde. Dabei habe sich gerade die dauerhafte Verfügbarkeit einer zuverlässigen Bindungsperson als ein solcher wirksamer Schutzfaktor erwiesen. Insofern sind die Zahlenangaben zur Resilienz im Falle des Beschwerdeführers kaum aussagekräftig, weil ihm mit seiner Herausnahme aus der Pflegefamilie gerade ein Abbruch all seiner bisherigen Bindungen abverlangt wird und das Gericht keine anderen Schutzfaktoren festgestellt und benannt hat, die für eine Widerstandsfähigkeit des Beschwerdeführers gegenüber den Trennungsverlusten sprechen könnten.

(3) Die Gründe des angegriffenen Beschlusses lassen des Weiteren nicht erkennen, dass das Oberlandesgericht in erforderlichem Maße der Frage nachgegangen ist, ob die leiblichen Eltern in der Lage sind, die nachteiligen Folgen einer eventuellen Traumatisierung des Kindes so gering wie möglich zu halten (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2000 – 1 BvR 2006/98 -, FamRZ 2000, S. 1489). Auch insoweit hätten die sehr wahrscheinlich im engsten Familienkreis der Eltern oder Großeltern erfolgten und nicht aufgearbeiteten Misshandlungen des Beschwerdeführers Anlass für eine eingehende Prüfung geboten.

Zwar hat das Oberlandesgericht unter Berufung auf den Sachverständigen ausgeführt, dass die leiblichen Eltern mit den Schwierigkeiten des Beschwerdeführers einfühlsam umgehen könnten. Auch der gerichtliche Sachverständige hat dabei jedoch den Umstand der von dem Beschwerdeführer erlittenen Gewalthandlungen unberücksichtigt gelassen. Das Gericht setzt sich zudem nicht damit auseinander, dass der Gutachter Probleme beim Aufbau von Bindungen zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Eltern darin liegen gesehen hat, dass der Beschwerdeführer angesichts seiner nun zur Familie gehörenden jüngeren Schwester nicht die für eine Entwicklung neuer Bindungen wichtige Rolle des besonders umsorgten jüngsten Kindes einnehmen könne. Dies erscheint umso bedenklicher, als auf der Grundlage der fachgerichtlichen Feststellungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bei dem Beschwerdeführer psychische Störungen aufgrund der Trennung von den Pflegeeltern zu erwarten sind und er daher in gesteigertem Maße auf eine seinen Bedürfnissen entsprechende Umgebung angewiesen sein dürfte.

(4) Bedenken wirft die Entscheidung schließlich auch insoweit auf, als das Oberlandesgericht für die Herausgabe des Beschwerdeführers lediglich eine Befristung von drei Monaten vorgesehen hat, ohne näher zu prüfen, auf welche Weise der Wechsel des Beschwerdeführers so vorbereitet werden könnte, dass er den Beschwerdeführer nicht zu abrupt und ohne einen Aufbau von Beziehungen zu seinen Eltern von seinen bisherigen Bezugspersonen trennt. Hier wäre in Erwägung zu ziehen gewesen, ob durch eine sich intensivierende Umgangsregelung ein allmählicher Bindungsaufbau zu den noch fremden leiblichen Eltern erreicht werden könnte (vgl. BVerfGK 2, 144 <147>).

cc) Der angegriffene Beschluss beruht auf den unzureichenden Abwägungen des Oberlandesgerichts unter mangelnder Berücksichtigung des Kindeswohls. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und ausreichender Ermittlung des Sachverhalts eine weitergehende Verbleibensanordnung getroffen hätte.

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

BVerfG, Beshluss vom 31.03.2010
1 BvR 2910/09

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