Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers vom 19.04.2022 wird der Beschluss des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 28.03.2022 aufgehoben.
Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
Die gemäß §§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG, 127 Abs. 2 S. 2 ZPO zulässige sofortige Beschwerde ist begründet. Eine Abänderung der ursprünglichen Entscheidung über die Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe ist nicht gerechtfertigt. Vielmehr hat es bei der ratenfreien Bewilligung zu verbleiben.
Das Amtsgericht hat im angefochtenen Beschluss ein vom Antragsteller einzusetzendes Einkommen von 162,92 € ermittelt und ist so zu dem Ergebnis gelangt, dass der Antragsteller monatliche Raten von 81 € zu zahlen habe. Dabei hat das Amtsgericht die vom Antragsteller geltend gemachten Fahrtkosten nicht berücksichtigt, sondern ist davon ausgegangen, dass er mithilfe des Semestertickets, das in den in Abzug gebrachten Studiengebühren enthalten ist, die Fahrstrecken von seiner Wohnung zur Hochschule zumutbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen könne. Diese Annahme ist nicht gerechtfertigt.
Insoweit kommt es auf die sehr konkreten Angaben des Antragstellers in der Beschwerdeschrift, in der er sich mit zahlreichen Möglichkeiten, die Hochschule mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, auseinandergesetzt hat, nicht an. Denn schon auf der Grundlage der Annahme des Amtsgerichts, wonach die Fahrstrecke mit der Bahn laut Fahrplanauskunft innerhalb von 1 Stunde und 30 Minuten zurückgelegt werden könne, wie im angefochtenen Beschluss angegeben, wäre die Zumutbarkeit der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu verneinen. Erst recht gilt das im Hinblick auf die weiteren Feststellungen, die das Amtsgericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung vom 29.04.2022 getroffen hat. Denn nach weiteren Internetrecherchen ist das Amtsgericht nun davon ausgegangen, dass die Rückreise zum Wohnort je nach Vorlesungsort in einer Fahrzeit von 1 Stunde 20 Minuten bis 2 Stunden erfolgen könne. Hinzuzurechnen wäre noch jeweils die vom Amtsgericht angenommene Fahrtzeit von ca. 6 Minuten mit dem Fahrrad von der Wohnung zum Bahnhof G… . Schon auf der Grundlage dieser Feststellungen des Amtsgerichts ist die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht mehr als zumutbar anzusehen. Erst recht gilt dies, wenn man das Vorbringen des Antragstellers zugrunde legt.
Gemäß § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 Buchst. a) ZPO sind vom Einkommen die in § 82 Abs. 2 SGB XII bezeichneten Beträge abzusetzen. Dazu zählen gemäß § 82 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGB XII die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben. Dies sind bei einem Erwerbstätigen insbesondere die Kosten für die Fahrten zur Arbeitsstelle. Für einen Studierenden wie den Antragsteller, der Leistungen nach dem BAföG bezieht, kann im Ergebnis nichts anderes gelten.
Allerdings wird der Freibetrag für Erwerbstätige (§ 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 Buchst. b) ZPO, der maßgeblich einen Anreiz und eine Belohnung für den Einsatz der Arbeitskraft des Bedürftigen darstellt, nicht bei Studierenden angesetzt (Kießling, in: Saenger, ZPO, 9. Aufl. 2021, § 115 Rn. 27, 28, beck-online). Dies könnte dafür sprechen, die Kosten, die dadurch entstehen, dass der Studierende Wege von seiner Wohnung zur Hochschule zurückzulegen hat, als nicht von § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 Buchst. a) ZPO i.V.m. § 82 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGB XII erfasst anzusehen. Doch selbst wenn man dies annähme, wären diese Ausbildungskosten jedenfalls als besondere Belastungen im Sinne von § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 5 ZPO berücksichtigungsfähig (vgl. Poller/Härtl/Köpf, Gesamtes Kostenhilferecht, 3. Aufl. 2018, ZPO § 115 Rn. 65, beck-online unter Bezugnahme auf BT-Drucksache 8/3068 S. 25; Markwardt, in: Johannsen/Henrich/Althammer, Familienrecht, 7. Aufl. 2020, ZPO § 115 Rn. 43; siehe auch Gottschalk/Schneider, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 10. Aufl. 2022, Rn. 333a für Schülerfahrtkosten; BeckOK ZPO/Reichling, 46. Edition 01.09.2022, ZPO § 115 Rn. 43.1 für eine nicht erwerbstätige Partei, die bei einer nachgewiesenen Gehbehinderung auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen ist).
Entsprechend kann für diese Fahrtkosten auch die Verordnung zur Durchführung des § 82 SGB XII herangezogen werden (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 13.06.2012 − XII ZB 658/11, NJW-RR 2012, 1089, beck-online; BGH, Beschluss vom 08.08.2012 − XII ZB 291/11, NJW-RR 2012, 1282, beck-online; zur Anwendbarkeit der Verordnung bei Fahrtkosten als besondere Belastungen auch BeckOK ZPO/Reichling, 46. Edition 01.09.2022, ZPO § 115 Rn. 43.1). Nach § 3 Abs. 6 Nr. 2 dieser Verordnung sind, wenn ein öffentliches Verkehrsmittel nicht vorhanden oder dessen Benutzung im Einzelfall nicht zumutbar und deshalb die Benutzung eines Kraftfahrzeuges notwendig ist, bei Benutzung eines Kraftwagens 5,20 € für jeden vollen Kilometer, die die Wohnung von der Arbeitsstelle entfernt liegt, zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall ist die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar.
Sozialrechtlich ist bei Arbeitslosigkeit gemäß § 140 Abs. 4 S. 1 SGB III eine Beschäftigung nicht zumutbar, wenn die täglichen Pendelzeiten zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte im Vergleich zur Arbeitszeit unverhältnismäßig lang sind. Als unverhältnismäßig lang sind im Regelfall Pendelzeiten von insgesamt mehr als zweieinhalb Stunden bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden und Pendelzeiten von mehr als zwei Stunden bei einer Arbeitszeit von sechs Stunden und weniger anzusehen, § 140 Abs. 4 S. 2 SGB III. Sind in einer Region unter vergleichbaren Beschäftigten längere Pendelzeiten üblich, bilden diese den Maßstab, § 140 Abs. 4 S. 3 SGB III. Diese Grundsätze werden auch im Familienrecht herangezogen. Gerade bei gesteigerter Erwerbsobliegenheit gegenüber einem minderjährigen Kind gemäß § 1603 Abs. 2 BGB müssen vom Unterhaltsschuldner in Anknüpfung an § 140 Abs. 2 S. 2 SGB III auch Pendelzeiten von bis zu 75 Minuten pro Strecke in Kauf genommen werden (vgl. OLG Brandenburg – 2. Familiensenat -, Beschluss vom 30.06.1998 – 10 WF 58/98, NJWE-FER 1999, 236 zu § 12 Abs. 4 SGB III a.F.; OLG Brandenburg – 2. Familiensenat -, Beschluss vom 02.04.2009 – 10 UF 194/08, BeckRS 2009, 10823; Niepmann, in: Niepmann/Seiler, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 14. Aufl. 2019, Rn. 722, beck-online; siehe zum Trennungsunterhalt auch Grandel, in: Schnitzler, Münchener Anwaltshandbuch Familienrecht, 5. Aufl. 2020, § 8 Rn. 31, beck-online).
Im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe kann ein strengerer Maßstab als bei Prüfung einer gesteigerten Erwerbsobliegenheit im Unterhaltsrecht nicht angelegt werden. Das wird bereits deutlich daran, dass der bedürftigen Person, die um Verfahrenskostenhilfe nachsucht, nur in absoluten Ausnahmefällen ein fiktives Einkommen angerechnet werden kann (vgl. nur MüKoZPO/Wache, 6. Aufl. 2020, ZPO § 115 Rn. 9 m.w.N.), während dies im Unterhaltsrecht nicht selten vorkommt (vgl. nur Niepmann, in:Niepmann/Seiler, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 14. Aufl., Rn. 724 ff., beck-online).
Selbst bei der kürzesten vom Amtsgericht festgestellten Verbindung von 1 Stunde und 20 Minuten (zzgl. 6 Minuten Fahrt mit dem Fahrrad) wird die nach sozialrechtlichen Grundsätzen höchstens zumutbare Zeitdauer von 1 Stunde und 15 Minuten je Fahrstrecke überschritten. Angesichts dessen kann von einem zumutbaren Verweis auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel hier nicht ausgegangen werden.
Dem steht nicht entgegen, dass das Amtsgericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung auf die Möglichkeit hingewiesen hat, die Fahrzeit in öffentlichen Verkehrsmitteln zugleich effektiv zum Lernen zu nutzen, was bei der Fahrt mit dem privaten Pkw nicht der Fall sei. Diesem Argument hat der Antragsteller in seinem Schriftsatz vom 13.05.2022 nachvollziehbar entgegengehalten, dass die öffentlichen Verkehrsmittel im Rhein-Main-Gebiet gerade morgens bzw. vormittags und am Nachmittag mit Fahrgästen vollständig gefüllt, oft sogar überfüllt seien, sodass es schon nicht sicher sei, dass man einen Sitzplatz erhalte. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass selbst dann, wenn man einen Sitzplatz erhält, die Beschäftigung mit Lehrinhalten in öffentlichen Verkehrsmitteln wegen der damit verbundenen Ablenkungen bei weitem nicht so effektiv ist wie die Beschäftigung damit am eigenen Schreibtisch.
Nach alledem sind die Kosten bei Benutzung eines Kraftwagens zu berücksichtigen. Der Antragsteller hat in seiner Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 01.02.2022 die einfache Entfernung zwischen seinem Wohnort und der Hochschule mit 53 km angegeben. Mithin sind Fahrtkosten in Höhe von 275,60 € (= 53 km * 5,20 €) abzugsfähig. Ein einzusetzendes Einkommen des Antragstellers verbleibt damit nicht.
Dieses Ergebnis entspricht auch der Billigkeit. Denn der Antragsteller verfügt über Einkommen lediglich in Form von Leistungen nach dem BAföG und Kindergeld. Diese Sozialleistungen dienen dazu, den regelmäßigen Lebensbedarf des Studierenden sicherzustellen, nicht aber dazu, einen Sonderbedarf, wie er bei Führung eines gerichtlichen Verfahrens entsteht, zu decken.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG, 127 Abs. 4 ZPO.
Gegen diesen Beschluss ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.
OLG Brandenburg, Beschluss vom 08.11.2022
10 WF 30/22