Die Revision gegen das Urteil des 3. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 14. November 2002 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand:
Die Klägerin macht als Trägerin der Sozialhilfe aus übergegangenem Recht Ansprüche auf Elternunterhalt geltend.
Die 1934 geborene Mutter der Beklagten bezog seit November 1998 Sozialhilfe in Form der Hilfe zum Lebensunterhalt, da sie mit ihren geringen Renteneinkünften nicht in der Lage war, ihre Lebensführung zu bestreiten. In der Zeit von November 1998 bis August 2000 gewährte ihr die Klägerin Leistungen in Höhe von insgesamt 6.512,01 DM.
Die 1956 geborene Beklagte ist das älteste von insgesamt fünf Kindern ihrer Mutter. Sie lebte bis zum Alter von 1 bis 1 ½ Jahren zusammen mit ihrer Mutter bei deren Eltern und wurde in deren Obhut zurückgelassen, als die Mutter zu ihrem Ehemann, dem Vater der Beklagten, zog. Zu persönlichen Kontakten zwischen der Mutter und der Beklagten kam es in der Folgezeit kaum noch.
Die Ehe der Eltern wurde etwa im Jahre 1959 geschieden. In der Zeit von 1963 bis 1966 gebar die Mutter drei weitere Kinder, die bei ihr lebten. Im August 1966 wanderte sie – zusammen mit diesen Kindern – in die USA aus und heiratete erneut. 1968 wurde das fünfte Kind geboren. Im Jahre 1974 kehrte die Mutter – nach der Scheidung ihrer zweiten Ehe – mit den Kindern nach Deutschland zurück; zwei Kinder übersiedelten später jedoch wieder zu ihrem – inzwischen verstorbenen – Vater in die USA und leben heute noch dort. Die in Deutschland lebenden Kinder der Mutter sind zur Zahlung von Elternunterhalt finanziell nicht in der Lage.
Die Beklagte, für die die Mutter zu keiner Zeit Unterhaltsleistungen erbracht hat, verblieb bei ihren Großeltern mütterlicherseits. Sie absolvierte eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester und ist in diesem Beruf tätig. Ihr durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen beläuft sich auf ca. 3.486 DM; bereinigt um berufsbedingte Aufwendungen, Lebensversicherungsprämie und eine Darlehensrate verbleiben monatlich rund 2.700 DM.
Mit Rechtswahrungsanzeige vom 2. November 1998 teilte die Klägerin der Beklagten die Gewährung von Sozialhilfeleistungen für ihre Mutter mit und forderte sie zur Auskunft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse auf. Mit ihrer Klage machte die Klägerin übergegangene Unterhaltsansprüche der Mutter für die Zeit von November 1998 bis August 2000 in Höhe ihrer Gesamtaufwendungen von 6.512,01 DM zuzüglich Zinsen geltend.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb erfolglos. Mit der – zugelassenen – Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
Das Rechtsmittel ist nicht begründet.
1. Das Berufungsgericht hat angenommen, dass ein Unterhaltsanspruch der Mutter gegen die Beklagte nicht bestehe, weil deren Inanspruchnahme grob unbillig sei. Dazu hat es ausgeführt: Der Mutter könne zwar nicht vorgeworfen werden, durch ein sittliches Verschulden unterhaltsbedürftig geworden zu sein.
Dass sie sich vor ihrer Übersiedlung in die USA ihre in Deutschland erworbenen Rentenanwartschaften habe auszahlen lassen, erfülle nicht die Voraussetzungen des § 1611 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB. Auch von einer gröblichen Vernachlässigung der Barunterhaltspflicht seitens der Mutter im Sinne der 2. Alt. der genannten Bestimmung könne nicht ausgegangen werden. Da sie noch vier weitere Kinder habe betreuen müssen, könne nicht angenommen werden, dass sie zur Zahlung von Unterhalt für die Beklagte in der Lage gewesen sei. Die Mutter habe sich jedoch einer schweren Verfehlung gegen die Beklagte schuldig gemacht (§ 1611 Abs. 1 Satz 1 3. Alt. BGB). Wie von der Mutter bei ihrer Vernehmung selbst eingeräumt worden sei, habe über viele Jahre kein Kontakt zwischen ihr und der Beklagten bestanden. Zwar habe sie letztere vor ihrer ersten Scheidung einmal für einige Monate in ihren Haushalt geholt. Dort habe die Großmutter das Kind aber wieder herausnehmen müssen, weil der Aufenthalt dessen Entwicklung abträglich gewesen sei. Die Beklagte habe gestottert, weshalb die Mutter selbst eingesehen habe, dass es besser sei, wenn die Tochter bei der Großmutter lebe. Im Zuge der Scheidung sei schließlich die elterliche Sorge für die Beklagte den – als nicht erziehungsgeeignet angesehenen – Eltern entzogen und den Großeltern übertragen worden. Danach habe sich die Mutter nicht mehr um die Beklagte gekümmert. Von einem Aufenthalt der Beklagten in den USA abgesehen, der zu einer Zeit stattgefunden habe, als die Mutter an Krebs erkrankt gewesen sei, habe letztere von Anfang der 60er Jahre an von sich aus den Kontakt zur Beklagten nicht nachdrücklich gesucht. Sofern es hierzu gleichwohl gekommen sei, habe dies auf den Bemühungen der Großeltern beruht. Auch heute noch ergäben sich Kontakte eher zufällig, wenn die Beklagte ihre Schwester besuche. Insgesamt werde in dem Verhalten der Mutter ein so grober Mangel an verwandtschaftlicher Gesinnung und menschlicher Rücksichtnahme deutlich, dass von einer vollständigen Verwirkung der Unterhaltsansprüche gegen die Beklagte auszugehen sei.
Diese Beurteilung begegnet im Ergebnis keinen rechtlichen Bedenken.
2. a) Nach § 1611 Abs. 1 Satz 1 BGB braucht der Unterhaltspflichtige nur einen Beitrag in der der Billigkeit entsprechenden Höhe zum Unterhalt des Berechtigten zu leisten, wenn dieser unter anderem seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen gröblich vernachlässigt (2. Alt.) oder sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen schuldig gemacht hat (3. Alt.). Die Verpflichtung fällt ganz weg, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre (§ 1611 Abs. 1 Satz 2 BGB).
aa) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann bereits nicht ausgeschlossen werden, dass die Voraussetzungen der 2. Alt. des § 1611 Abs. 1 Satz 1 BGB erfüllt sein können. Das Berufungsgericht hat insofern allein auf eine Verletzung der Barunterhaltspflicht abgestellt und eine solche mangels Leistungsfähigkeit der Mutter verneint. Eltern schulden ihren Kindern indessen entweder Bar- oder Naturalunterhalt (§ 1612 Abs. 2 BGB), zu dem – als Teil der Unterhaltspflicht – auch die Betreuung gehört (§ 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB). Eine Vernachlässigung der Betreuung ist grundsätzlich ebenfalls geeignet, die Rechtswirkungen des § 1611 Abs. 1 BGB auszulösen (ebenso Staudinger/Engler BGB – 2000 – § 1611 Rdn. 18; Günther Münchner Anwaltshandbuch § 12 Rdn. 111; a.A. MünchKomm/Born 4. Aufl. § 1611 Rdn. 14), auch wenn die Betreuung nicht in vollem Umfang persönlich erbracht werden muss. Für eine Beschränkung des § 1611 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. BGB auf eine Verletzung der Barunterhaltspflicht sind dem Gesetz keine Anhaltspunkte zu entnehmen. Im vorliegenden Fall kommt eine Verletzung der Naturalunterhaltspflicht in der Zeit bis zur Übertragung der elterlichen Sorge für die Beklagte auf die Großeltern in Betracht. Zwar brauchte die Mutter die Betreuung nicht uneingeschränkt selbst zu übernehmen, sondern durfte sich hierbei auch der Mithilfe anderer bedienen.
Das ändert aber nichts daran, dass die Verantwortung für das Kind in erster Linie bei den Eltern, und damit auch bei der Mutter, lag. Diese Aufgabe durfte sie nicht in vollem Umfang delegieren, indem sie die Betreuung ohne jedweden eigenen Einsatz allein den Großeltern überließ. Ob insoweit bereits von einer gröblichen Vernachlässigung der Unterhaltspflicht ausgegangen werden kann, bedarf indessen keiner Entscheidung. In jedem Fall hat das Berufungsgericht nämlich die Voraussetzungen des § 1611 Abs. 1 Satz 1 3. Alt. BGB rechtsfehlerfrei bejaht.
bb) Eine schwere Verfehlung im Sinne der vorgenannten Bestimmung kann regelmäßig nur bei einer tiefgreifenden Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Belange des Pflichtigen angenommen werden (MünchKomm/Born aaO § 1611 Rdn. 23; Luthin/Schumacher Handbuch des Unterhaltsrechts 9. Aufl. Rdn. 3234; OLG Celle FamRZ 1993, 1235, 1236; OLG München FamRZ 1992, 595, 597). Als Begehungsformen kommen aktives Tun und Unterlassen in Betracht, letzteres allerdings nur, wenn der Berechtigte dadurch eine Rechtspflicht zum Handeln verletzt (Münch-Komm/Born aaO § 1611 Rdn. 23). Mit Rücksicht darauf kann sich auch eine Verletzung elterlicher Pflichten durch Unterlassen als Verfehlung gegen das Kind darstellen. Das gilt nicht nur für die besonders geregelte Vernachlässigung der Unterhaltspflicht, sondern etwa auch für die dauernde grobe Vernachlässigung und Verletzung der Aufsichtspflicht und für die Verletzung der Pflicht zu Beistand und Rücksicht, die in der durch das Sorgerechtsgesetz von 1979 eingefügten Vorschrift des § 1618 a BGB auch zum Ausdruck gebracht worden ist (Staudinger/Engler aaO § 1611 Rdn. 29). Hierbei handelt es sich um das Eltern-Kind-Verhältnis prägende Rechtspflichten, deren Verletzung unter den Voraussetzungen des § 1611 Abs. 1 Satz 1 3. Alt. BGB Bedeutung zukommen kann.
cc) Danach hat sich die Mutter nach den getroffenen Feststellungen auch nach Auffassung des Senats einer schweren Verfehlung gegen die Beklagte schuldig gemacht. Dies ergibt die gebotene umfassende Abwägung aller maßgeblichen Umstände (vgl. hierzu Senatsurteil vom 25. Januar 1995 – XII ZR 240/93 – FamRZ 1995, 475, 476). Auch wenn ihr die elterliche Sorge nicht mehr zustand und ihr deshalb nicht mehr die Pflege und Erziehung der Beklagten oblag, gehörte es zu den Pflichten der Mutter, sich weiterhin um ihr Kind zu kümmern, Anteil an seinem Leben und seiner Entwicklung zu nehmen, ihm bei auftretenden Problemen und Schwierigkeiten zur Seite zu stehen und ihm insgesamt die Gewissheit zu vermitteln, dass ein ihm in Liebe und Zuneigung verbundener Elternteil für es da ist. Daran hat es die Mutter jedenfalls von der Zeit an, in der sie die Beklagte im Alter von 1 bis 1 ½ Jahren in der Obhut der Großeltern zurückgelassen hat, fast durchgehend fehlen lassen. Sie hat sich trotz der Fürsorgebedürftigkeit des Kindes – mit Ausnahme von dessen kurzfristiger Aufnahme in den elterlichen Haushalt – nicht mehr persönlich um dieses gekümmert und – von der Ermöglichung eines Besuches des Kindes in den USA abgesehen – von sich aus noch nicht einmal versucht, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus hat sie die Beklagte – im Gegensatz zu ihren anderen Kindern – bei ihrer Auswanderung in die USA in Deutschland zurückgelassen und dem Kind so den Eindruck der Zurücksetzung durch die Mutter und deren Interessenlosigkeit an seiner Person vermittelt. Dem steht – entgegen der Auffassung der Revision – nicht entgegen, dass die Mutter das Kind bei ihren Eltern gut versorgt wusste und die Beklagte sich im Haushalt der Großeltern gut entwickelt hat. Dadurch war die Mutter nicht der Pflicht enthoben, sich weiterhin um ihr Kind zu kümmern, mit ihm brieflich oder telefonisch Kontakt zu halten und an seiner Entwicklung und an seinem Leben Anteil zu nehmen. Dass entsprechende Bemühungen dem Kindeswohl ausnahmsweise geschadet hätten, hätte die Klägerin darlegen müssen. Das hat sie nicht getan. Das Unterlassen der Mutter, an dem sich in der Folgezeit nichts geändert hat, offenbart einen so groben Mangel an elterlicher Verantwortung und menschlicher Rücksichtnahme, dass nach Abwägung aller Umstände in diesem besonders gelagerten Fall von einer schweren Verfehlung gegen die Beklagte auszugehen ist (vgl. insofern auch Staudinger/Engler aaO § 1611 Rdn. 29; Erman/Holzhauer BGB 10. Aufl. § 1611 Rdn. 5; Palandt/Diederichsen BGB 63. Aufl. § 1611 Rdn. 5; Kalthoener/Büttner/Niepmann Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts 8. Aufl. Rdn. 1053 b; Wendl/Pauling Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis* 6. Aufl. § 2 Rdn. 626; Günther aaO § 12 Rdn. 113; LG Hannover FamRZ 1991, 1094, 1095; AG Helmstedt FamRZ 2001, 1395; AG Leipzig FamRZ 1997, 965). Nach der Lebenswirklichkeit war der Mutter ihr Verhalten auch bewusst, so dass sie vorsätzlich gehandelt hat.
dd) Bei der gegebenen Sachlage erscheint es auch rechtsbedenkenfrei, dass das Berufungsgericht den Unterhalt nicht nur herabgesetzt, sondern die Voraussetzungen eines vollständigen Wegfalls der Unterhaltspflicht der Beklagten bejaht hat. Zwar kommt ein solcher nur unter den in § 1611 Abs. 1 Satz 2 BGB genannten engen Voraussetzungen, nämlich bei Vorliegen grober Unbilligkeit der Inanspruchnahme, in Betracht. Von dieser ist auszugehen, wenn die Gewährung von Unterhalt dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widersprechen würde (MünchKomm/Born aaO § 1611 Rdn. 37; Soergel/Häberle BGB 12. Aufl. § 1611 Rdn. 7; Günther aaO § 12 Rdn. 114; vgl. auch Senatsurteil vom 18. März 1992 – XII ZR 262/90 – FamRZ 1992, 787, 788 für das Leistungsverweigerungsrecht nach § 1381 BGB).
Das wäre hier indessen – wie eine Würdigung aller maßgeblichen Umstände ergibt – der Fall. Dabei verkennt der Senat nicht, dass bei der Frage, inwieweit Ansprüche auf Elternunterhalt verwirkt sind, die gebotene Berücksichtigung auch der Belange des Unterhaltsberechtigten es regelmäßig erfordert, dessen – trotz der Verfehlung vorliegende – Unterhaltsleistungen in die Würdigung einzubeziehen, wenn er – wie zumeist – über lange Jahre hinweg für sein Kind gesorgt und sich zu dessen Gunsten in seiner eigenen Lebensführung eingeschränkt hat (vgl. Finger FamRZ 1995, 969, S. 974 f.). Dieser Gesichtspunkt kommt hier indessen nicht zum Tragen. Eigene Leistungen der Mutter für die Beklagte sind in nennenswertem Umfang nie erfolgt. Dagegen kommt der Verfehlung der Mutter ein solches Gewicht zu, dass es mit dem Rechtsempfinden schlechthin nicht zu vereinbaren wäre, wenn die Beklagte, nachdem sie die Mutter praktisch immer entbehren musste und sie deshalb als Fremde empfinden musste und durfte, nunmehr für deren Unterhalt aufkommen müsste, zumal sie nach den getroffenen Feststellungen nicht in wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, bei denen sie durch Unterhaltsleistungen nicht in spürbarer Weise in ihrer Lebensführung beeinträchtigt würde.
BGH, Urteil vom 19.04.2004
XII ZR 304/02