BVerfG: Fiktive Zurechnung von Erwerbseinkommen

BVerfG: Fiktive Zurechnung von Erwerbseinkommen

1. Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 15. September 2003 – 12 UF 20/03 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht in Schleswig zurückverwiesen.
2. Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer seine notwenigen Kosten zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die fiktive Zurechnung von Erwerbseinkommen im Rahmen eines Unterhaltsverfahrens.

Der Beschwerdeführer ist der Vater zweier minderjähriger Kinder, die bei der Kindesmutter leben und von dieser betreut werden. Im Ausgangsverfahren begehrten die Kinder die Verurteilung des Beschwerdeführers zur Zahlung von Kindesunterhalt in Höhe der Regelbeträge. Seit Ende 2000 war der Beschwerdeführer überwiegend arbeitslos; kurzzeitig arbeitete er als Nachtportier mit einem monatlichen Einkommen von ca. 1.800 DM.

Das Amtsgericht Husum gab der Klage teilweise statt. Dem Beschwerdeführer sei ein fiktives Nettoeinkommen von 2.300 DM zuzurechnen. Er habe nicht dargelegt und bewiesen, dass er kein Einkommen in dieser Höhe erzielen könne. Aus den vorgelegten Bewerbungsschreiben ergebe sich nur, dass sich der Beschwerdeführer im Bereich Eiderstedt und Nordfriesland um Arbeit bemüht habe. Ihm sei aber zumutbar, in ganz Deutschland Arbeit zu suchen und anzunehmen.

Der Beschwerdeführer beantragte für das Berufungsverfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Er habe unter Beweisangebot dargelegt, dass ihm der Arbeitsmarkt im Bereich der Westküste bis nach Rendsburg, Schleswig und Flensburg verschlossen sei. Da er einen intensiven Kontakt zu seinen Kindern pflege, sei er nicht verpflichtet, sich in ganz Deutschland zu bewerben.

Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht in Schleswig wies den Prozesskostenhilfeantrag des Beschwerdeführers mangels Erfolgsaussichten zurück. Der Beschwerdeführer könne sich nicht auf Leistungsunfähigkeit berufen, da er seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit gemäß § 1603 Abs. 2 BGB nicht genüge. Er habe nicht dargelegt, dass er bei gehöriger Anstrengung nicht einen Arbeitsplatz mit einem Nettoeinkommen von 2.300 DM finden könnte. Er könne sich nicht auf die allgemeine Lage am Arbeitsmarkt berufen, da es nicht auf die theoretischen Chancen einen Arbeitsplatz zu finden ankomme, sondern darauf, ob er bei intensiven Bemühungen einen solchen finden könne. Wenn man nicht nur regional begrenzt suche, ließe sich auch in schwierigen Arbeitsmarktzeiten eine Arbeit finden.
II.

Mit seiner gegen die Versagung der Prozesskostenhilfe gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem die Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.

1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu den Anforderungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet (vgl. BVerfGE 10, 264 <270>; 22, 83 <87>; 51, 295 <302>; 63, 380 <394>; 67, 245 <248>; 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <357>).

2. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

a) Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegten Rechtsstaatsprinzip gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 81, 347 <356>). Verfassungsrechtlich ist es dabei unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, ob die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>).

Die Auslegung und Anwendung des § 114 ZPO obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die dabei den – verfassungsgebotenen – Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben. Das Bundesverfassungsgericht kann folglich nur eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen (vgl. BVerfGE 81, 347 <358>).

b) Bei Anwendung dieser Maßstäbe erweist sich die vorliegende Verfassungsbeschwerde als begründet. Das Oberlandesgericht hat die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverteidigung überspannt und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe verfehlt. Weder aus der Begründung des erstinstanzlichen Urteils noch aus der des Prozesskostenhilfebeschlusses erschließt sich, dass der Beschwerdeführer sich nicht mit hinreichender Aussicht auf Erfolg auf Leistungsunfähigkeit berufen könnte.

Richtig ist zwar, dass die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen nicht nur durch die tatsächlich vorhandenen, sondern auch durch solche Mittel bestimmt wird, die er bei gutem Willen durch eine zumutbare Erwerbstätigkeit erreichen könnte. Aufgrund der gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB für Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern bestehenden Verpflichtung, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden, obliegt dem Unterhaltspflichtigen eine gesteigerte Ausnutzung seiner Erwerbskraft, die es ihm ermöglicht, jedenfalls den Unterhaltsbedarf in Höhe des Regelbetrages nach der Regelbetragsverordnung sicherzustellen. Er hat sich deshalb intensiv um eine hinreichende Erwerbstätigkeit zu bemühen. Kommt er dieser Obliegenheit schuldhaft nicht nach, so muss er sich so behandeln lassen, als ob er das Einkommen, das er bei gutem Willen durch eine zumutbare Erwerbstätigkeit erzielen könnte, tatsächlich hätte (vgl. KG, FamRZ 2003, S. 1208 <1209>). Gleichwohl ist Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht § 1603 Abs. 1 BGB, nach dem nicht unterhaltspflichtig ist, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs bleibt daher die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Überschreitet der ausgeurteilte Unterhalt die Grenze des Zumutbaren, ist die Beschränkung der Dispositionsfreiheit des Verpflichteten im finanziellen Bereich als Folge der Unterhaltsansprüche des Bedürftigen nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und kann vor dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen (vgl. BVerfGE 57, 361 <381>).

Voraussetzung einer Zurechnung fiktiver Einkünfte ist mithin, dass der Unterhaltspflichtige die ihm subjektiv zumutbaren Anstrengungen, eine angemessene Erwerbstätigkeit zu finden, nicht oder nicht ausreichend unternommen hat und zudem feststeht oder zumindest nicht auszuschließen ist, dass bei genügenden Bemühungen eine reale Beschäftigungschance bestanden hätte. Zu diesen subjektiven wie objektiven Voraussetzungen der Zurechnung fiktiver Einkünfte haben das Amtsgericht ebenso wie das Oberlandesgericht keine hinreichenden Feststellungen getroffen. Auch wenn nach § 10 SGB II von einem Erwerbslosen grundsätzlich eine Arbeitssuche im gesamten Bundesgebiet verlangt wird, entbindet dies die Familiengerichte nicht von der Pflicht, jedenfalls im Hauptsacheverfahren zu prüfen, ob eine bundesweite Arbeitsaufnahme dem Unterhaltsverpflichteten unter Berücksichtigung seiner persönlichen Bindungen, insbesondere seines Umgangsrechts mit seinen Kindern, sowie der Kosten der Ausübung dieses Umgangsrechts und der Umzugskosten, zumutbar ist. Indem das Oberlandesgericht im Prozesskostenhilfeverfahren ungeachtet der diesbezüglichen Einwendungen des Beschwerdeführers eine kausale Erwerbsobliegenheitsverletzung damit begründet hat, dass der Unterhaltspflichtige bei einer jedenfalls bundesweiten Arbeitssuche eine Arbeitsstelle hätte finden können, hat es dem Beschwerdeführer die Möglichkeit abgesprochen, im Hauptsacheverfahren die Unzumutbarkeit darzulegen und zu beweisen. Damit hat es die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der Rechtsverteidigung überspannt und den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu den Gerichten zu ermöglichen, deutlich verfehlt.

Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass das Oberlandesgericht unter Einbeziehung der Besonderheiten des konkreten Einzelfalles zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass der Beschwerdeführer sich nicht bundesweit hätte bewerben müssen und wegen fehlender realer Beschäftigungschancen unzureichende Erwerbsbemühungen für die Leistungsunfähigkeit nicht ursächlich seien.

c) Die angegriffene Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht bei Beachtung der sich aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 61 Abs. 1 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

BVerfG, Beschluss vom 29.12.2005
1 BvR 2076/03

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