OLG Rostock: Kein gemeinsames Sorgerecht bei nur eingeschränkter Kindeswohlprüfung

OLG Rostock: Kein gemeinsames Sorgerecht bei nur eingeschränkter Kindeswohlprüfung

  1. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin werden der Beschluss des Amtsgerichts Wismar – Familiengericht – vom 24.04.2024, Az.: 29 F 777/23, und das zugrundeliegende Verfahren aufgehoben und wird die Sache an das Amtsgericht Wismar – Familiengericht – zur erneuten Behandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
  2. Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben. Im Übrigen wird dem Amtsgericht Wismar – Familiengericht – die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
  3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000,00 € festgesetzt.
  4. Der Antragsgegnerin wird für den Beschwerderechtszug ratenfreie Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt … aus … als Verfahrensbevollmächtigter zu den Bedingungen eines in dem Bezirk des Verfahrensgerichts niedergelassenen Rechtsanwalts bewilligt.

Gründe

I.

Die Kindeseltern streiten im vorliegenden Verfahren um das Sorgerecht für ihr Kind …, geboren am …. Sie sind und waren nicht miteinander verheiratet und trennten sich im Juni 2022. Der Antragsteller hat die Vaterschaft des Kindes am … anerkannt. Er erstrebt in vorliegender Sache die Einrichtung gemeinsamer elterlicher Sorge.

Der Antragsteller hat erstinstanzlich behauptet, konkrete Meinungsverschiedenheiten, die das Kind betreffen würden, beständen nicht. Eine tragfähige Basis für die gemeinsame elterliche Sorge bestehe, die Blockadehaltung der Antragsgegnerin in Bezug auf seinen Umgang werde sich durch eine praktizierte gemeinsame Sorge auflösen. Durch dieses Blockadeverhalten würden die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Antragsgegnerin und deren fehlende Bindungstoleranz deutlich. Demgegenüber zeige er – der Antragsteller – sich durchweg kooperativ und suche den Dialog. Ihm sei an der gemeinsamen elterlichen Sorge gelegen, da die Kindesmutter bisher keinerlei Informationen an ihn weitergegeben habe. Ihm gehe es darum, ein eigenes Informationsrecht zu haben und an der Entwicklung des Kindes aktiv teilnehmen zu können.

Er hat erstinstanzlich beantragt,

für das Kind … die von ihm und der Antragsgegnerin gemeinsam auszuübende elterliche Sorge anzuordnen.

Die Antragsgegnerin hatte zunächst schriftsätzlich angekündigt, die Zurückweisung des Antrags zu beantragen, dann dem Antrag im Erörterungstermin vor dem Amtsgericht am 23.04.2024 aber – durch ihre Verfahrensbevollmächtigte – zugestimmt. Auf den Vermerk über den genannten Termin wird Bezug genommen, insbesondere auf dessen Seite 3.

Die Antragsgegnerin hat behauptet, in der Beziehung der Kindeseltern habe Gewalt des Antragstellers ein zunehmend unlösbares Problem dargestellt. Gegenüber ihrem Sohn … sei der Antragsteller gewalttätig aufgetreten, wie sie anhand dreier Vorfälle näher schildert. Sie sei häufig von dem Antragsteller bedroht worden. Er habe ihr Gewalt für den Fall angedroht, dass sie sich wegen der Vorfälle gegenüber dem Sohn … an die Polizei wende.

Das Amtsgericht hat dem Kind eine Verfahrensbeiständin bestellt und zwei Anhörungs- und Erörterungstermine – am 13.02.2024 und am 23.04.2024 – durchgeführt. Die Verfahrensbeiständin sowie das Jugendamt haben die Übertragung des Sorgerechts auf die Eltern gemeinsam befürwortet.

Das Amtsgericht hat mit dem hier beschwerdegegenständlichen Beschluss vom 24.04.2024, der der Antragsgegnerin am 26.04.2024 zugestellt wurde, die elterliche Sorge für das Kind … auf beide Elternteile übertragen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass aufgrund der Zustimmung der Kindesmutter vermutet werde, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl nicht widerspreche.

Gegen diesen Beschluss hat die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 29.04.2024, eingegangen beim Amtsgericht am 30.04.2024, Beschwerde eingelegt und sinngemäß die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung begehrt. In der Beschwerdebegründung hat sie ausgeführt, dass sie ihre Zustimmung widerrufe. Ihre damalige Verfahrensbevollmächtigte habe sie nicht hinreichend über die Folgen ihrer Erklärung aufgeklärt. Wegen der vorgetragenen Gründe, die nach Ansicht der Antragsgegnerin der gemeinsamen elterlichen Sorgen entgegenstehen würden, wird auf die Schriftsätze vom 29.04.2024 und 24.06.2024 Bezug genommen.

Der Antragsteller, der sein erstinstanzliches Begehren weiter verfolgt und die Zurückweisung der Beschwerde beantragt, vertritt im Beschwerdeverfahren die Auffassung, im Erörterungstermin vor dem Amtsgericht am 23.04.2024 seien durch die Kindeseltern Sorgeerklärungen abgegeben worden, weshalb der Beschwerde der Erfolg zu versagen sei. Hinsichtlich seiner Argumente für eine gemeinsame elterliche Sorge wird auf die Schriftsätze vom 24.06.2024 und 27.06.2024 verwiesen.

Der Senat hat mit Verfügung vom 11.07.2024, auf deren Inhalt Bezug genommen wird, darauf hingewiesen, dass er nach vorläufiger Einschätzung beabsichtigt, den Beschluss des Amtsgerichts abzuändern und den Antrag des Antragstellers zurückzuweisen. Alternativ hat er eine einvernehmliche Lösung angeregt, die aber von keinem der Beteiligten aufgenommen wurde. Die Kindeseltern haben anschließend schriftsätzlich ihre konträren Standpunkte vertieft. Das Jugendamt und die Verfahrensbeiständin haben sich für eine gemeinsame elterliche Sorge und die Erteilung von Vollmachten durch den Antragsteller für einzelne Bereiche der elterlichen Sorge ausgesprochen. Auf die Schriftsätze vom 25.07.2024, 26.07.2024, 29.07.2024 und 01.08.2024 wird verwiesen.

Der Senat hat die Akten des (Umgangs-) Verfahrens … vor dem Amtsgericht Wismar beigezogen.

II.

1.

Die nach §§ 58 ff. FamFG zulässige – insbesondere nicht an mangelnder Betroffenheit in subjektiven Rechten (§ 59 Abs. 1 FamFG) scheiternde – Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet und führt zur Aufhebung des Beschlusses vom 24.04.2024 und des zugrundeliegenden Verfahrens sowie zur Zurückverweisung an das Amtsgericht.

a) Das Beschwerdegericht darf eine Sache gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 FamFG an das Gericht des ersten Rechtszugs – anders als in den Fällen des § 69 Abs. 1 Satz 3 FamFG auch ohne einen dahingehenden Antrag eines Beteiligten – zurückverweisen, wenn dieses in der Sache noch nicht entschieden hat. Von einem solchen Fall ist etwa auszugehen, wenn eine weitere Prüfung eines Antrages wegen des erklärten Einverständnisses der übrigen Beteiligten nicht erfolgte (Sternal in: Sternal, 21. Aufl. 2023, FamFG, § 69, Rn. 19, beck-online), so wenn das Amtsgericht nach (später widerrufener) Zustimmung des Antragsgegners die elterliche Sorge gemäß § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BGB ohne weitere Prüfung auf die Antragstellerin übertragen hat, während nunmehr – im Rahmen der Entscheidung gemäß § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB – das Kindeswohl umfassend zu prüfen ist (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24.08.2017, 5 UF 162/17, Rn. 5, juris; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 17.02.2011, 6 UF 14/11, Rn. 4, juris). Ein solcher Fall liegt auch vor, wenn das Familiengericht unzutreffend im vereinfachten schriftlichen Verfahren nach § 155a Abs. 3 FamFG anstatt im Regelverfahren entschieden hat (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 23.04.2021, 6 UF 35/21, Rn. 5, juris).

Der vorliegende Fall ist nicht anders zu beurteilen und rechtfertigt eine zumindest entsprechende Anwendung von § 69 Abs. 1 Satz 2 FamFG, weil das Amtsgericht ausweislich der Gründe des angefochtenen Beschlusses aufgrund der Zustimmung der Antragsgegnerin die gemäß § 1626a Abs. 2 Satz 1 BGB grundsätzlich gebotene umfassende negative Kindeswohlprüfung nicht vorgenommen hat. Das Amtsgericht hat ausgeführt, dass aufgrund der Zustimmung der Antragsgegnerin zu vermuten sei, „dass die Übertragung der elterlichen Sorge auf beide Eltern dem Kindeswohl nicht widerspricht, § 1626 a Abs. 2 BGB“. Damit hat es lediglich auf den formalen Akt der Zustimmung der Antragsgegnerin abgestellt und keine – jedenfalls keine umfassende – Kindeswohlprüfung vorgenommen, sondern lediglich die Vermutungswirkung des § 1626a Abs. 2 Satz 2 zugrundegelegt, obwohl diese Vorschrift hier tatsächlich nicht einschlägig war (oder ist). Indem das Amtsgericht allein auf die Zustimmung abgestellt hat, hat es im Ergebnis sogar noch weniger an Kindeswohl geprüft, als nach dem Wortlaut der Norm – ihre Anwendbarkeit unterstellt – Voraussetzung für diese Vermutungswirkung wäre, nämlich dass der andere Elternteil keine Gründe vorträgt, die der Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge entgegenstehen können, und solche Gründe auch sonst nicht ersichtlich sind. Da die Zustimmung der Antragsgegnerin durch den Widerruf entfallen ist, was auch noch im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen ist, da die Beschwerde gemäß § 65 Abs. 3 FamFG auf neue Tatsachen gestützt werden kann, fehlt es an der Grundlage für die vom Amtsgericht angenommene Vermutung, was nunmehr eine umfassende Kindeswohlprüfung erforderlich macht, die durch das Amtsgericht noch nicht vorgenommen worden ist. Mithin fehlt es an der gebotenen Entscheidung des Amtsgerichts in der Sache.

Der Senat übt das ihm gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 FamFG („darf“) zustehende Ermessen (Sternal in: Sternal, 21. Aufl. 2023, FamFG, § 69, Rn. 17, beck-online) dahin aus, die amtsgerichtliche Entscheidung aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen, da den Beteiligten sonst eine Instanz genommen würde. Daneben ist zu berücksichtigen, dass die Beteiligten vor dem Amtsgericht parallel ein Umgangsverfahren (Az.: …) führen, in dem sie auch eine Elternberatung vereinbart haben, so dass die Beziehung der Kindeseltern in sorgerechtsrelevanter Weise Änderungen unterliegen kann, die das Amtsgericht aus der Erfahrung dieses anderen Verfahrens sachnäher zu beurteilen vermag.

b) Anders als der Antragsteller meint, liegen keine übereinstimmenden Sorgeerklärungen der Kindeseltern gemäß § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB vor. Gemäß § 155a Abs. 5 Satz 1 FamFG können Sorgeerklärungen auch im Erörterungstermin zur Niederschrift des Gerichts erklärt werden. Jedenfalls der Antragsteller hat zur Niederschrift des Gerichts in den Terminen vom 13.02.2024 oder 23.04.2024 keine Sorgeerklärung abgegeben. In den Vermerken über die Sitzungen findet sich von ihm keine persönliche Äußerung in diesem Sinne. Eine etwaige Erklärung seines Verfahrensbevollmächtigten reicht nicht aus, da die Sorgeerklärung persönlich abgegeben werden muss, § 1626c Abs. 1 BGB (vgl. Schäder in: Sternal, FamFG, 21. Aufl. 2023, § 155a Rn. 17). Aus diesem Grunde kann – schon unabhängig von der insofern unzweifelhaft nicht gewahrten Form des § 1626d Abs. 1 BGB – auch in der verfahrenseinleitenden Antragsschrift keine Sorgeerklärung des Antragstellers gesehen werden. Aber auch die Antragsgegnerin hat ihre Zustimmung, sofern darin inhaltlich eine Sorgeerklärung zu sehen sein sollte, nicht persönlich erteilt, sondern die betreffende Erklärung im Wege der Vertretung durch ihre Verfahrensbevollmächtigte abgeben lassen. Auch auf Seiten der Antragsgegnerin wäre also der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit nicht gewahrt.

2.

Die Entscheidung zu den Gerichtskosten folgt aus § 20 Abs. 1 Satz 1 FamGKG. Im Übrigen war die Entscheidung über die Kosten dem Gericht erster Instanz zu übertragen (vgl. Sternal in: Sternal, FamFG, 21. Aufl. 2023, § 69, Rn. 57).

Die Festsetzung des Verfahrenswertes für das Beschwerdeverfahren (§ 55 Abs. 2 FamGKG) ergibt sich aus §§ 40 Abs. 1 Satz 2, 45 Abs. 1 Nr. 2 FamGKG.

3.

Die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für die Antragsgegnerin folgt aus § 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. §§ 119 Abs. 1 Satz 1, 114 f. ZPO, die Entscheidung über die Beiordnung aus § 78 Abs. 2 u. 3 FamFG.

OLG Rostock, Beschluss vom 27.09.2024
10 UF 50/24

AG Wismar, Beschluss vom 24.04.2024
29 F 777/23

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