1. Alleiniger Maßstab dafür, welchem Elternteil das alleinige Sorgerecht zu übertragen ist, ist das Wohl des betroffenen Kindes (vgl. § 1697 a BGB). Gewichtige Gesichtspunkte des Kindeswohls sind die Erziehungseignung der Eltern, die Bindung des Kindes, die Prinzipien der Förderung und der Kontinuität sowie die Beachtung des Kindeswillens.
2. Ab einem Alter von 11 bzw.12 Jahren ist der Kindeswille ein entscheidender Maßstab für alle umgangs- bzw. sorgerechtlichen Entscheidungen in Bezug auf die Kindeseltern (OLG Stuttgart, 23. Februar 2015, 15 UF 192/13). Ein gegen den ernsthaften Widerstand des Kindes erzwungener Aufenthalt bei einem Elternteil, zu dem das Kind seit zwei Jahren jeglichen Kontakt abgebrochen hat, kann durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit mehr Schaden verursachen als Nutzen.
1. Auf die vom Antragsgegner und vom Landkreis Ludwigslust-Parchim als Jugendamt eingelegten Beschwerden wird der Beschluss des Amtsgerichts Schwerin _ Familiengericht – vom 23.04.2020 in Zift. 1 und Zift. 2 der Entscheidungsformel geändert:
Die elterliche Sorge für das Kind …, geboren am …, wird auf den Antragsgegner allein übertragen.
2. Gerichtskosten im Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben; außergerichtliche Kosten nicht erstattet.
3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000,00 EUR festgesetzt.
4. Dem Antragsgegner wird für das Beschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt … bewilligt.
5. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt … bewilligt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin und der Antragsgegner sind die Eltern des am .2008 geborenen Kindes … für das sie aufgrund übereinstimmender Sorgerechtserklärung vor dem Jugendamt das gemeinsame Sorgerecht inne haben. Als … etwa 5 Jahre alt war, haben sich die nicht miteinander verheirateten Eltern getrennt. Eine Verständigung über den gewöhnlichen Aufenthalt von … und die Umgänge mit dem Kindesvater blieb aus. Im August 2014 strengte der Kindesvater beim Amtsgericht Schwerin ein Umgangsrechtsverfahren an, mit dem Ziel der Fortsetzung eines Wechselmodells, welches die Kindesmutter nicht mehr bereit war zu praktizieren. Im September 2014 begann auf Antrag der Kindesmutter das vorliegende Sorgerechtsverfahren mit dem einleitenden Antrag, ihr das alleinige Sorgerecht für … zuzusprechen, weil eine vernünftige und sachliche Kommunikation mit dem Kindesvater nicht mehr gelinge. Seit dieser Zeit – also seit nunmehr fast 6 Jahren – führen die Kindeseltern in zahlreichen Verfahren den gerichtlichen Streit um das Sorge- und Umgangsrecht betreffend ihres Kindes … … war zu Beginn des elterlichen Dauerstreits 6 Jahre alt. Er wird nunmehr im Oktober das 12. Lebensjahr vollenden. Seine Haltung gegenüber seinen Eltern hat sich im Verlaufe des vorliegenden und der vielfachen anderen Verfahren verändert.
Während er sich bei seiner Anhörung durch das Amtsgericht Schwerin am 15.03.2016 noch dafür aussprach, bei seiner Mutter in … wohnen bleiben zu wollen und sich nicht so gern bei Papa in … aufzuhalten, weil dieser “öfter mit ihm schimpfe”, kam es schließlich am 28.06.2018 zum Bruch mit der Kindesmutter. … wandte sich an diesem Tag Hilfe suchend telefonisch an die Mitarbeiterin des AJW Schwerin, Frau … Er schilderte ihr, dass er die Situation bei seiner Mutter nicht mehr ertragen könne. Frau … kontaktierte das Jugendamt Ludwigslust-Parchim, dort Frau …. Diese setzte sich mit dem Kindesvater in Verbindung. Der Kindesvater holte … von der Schule ab und fuhr mit ihm zum AJW. Dort schilderte … Frau … und der hinzugerufenen Frau … seine Not. Er werde von seiner Mutter und seiner Großmutter mütterlicherseits ständig ausgefragt, was er mit Frau …, mit dem Verfahrensbeistand und dem Kindesvater alles bespreche. Er dürfe nicht telefonieren wie er wolle. Er fühle sich aus der mütterlichen Familiengemeinschaft ausgeschlossen, weil er sich nicht in deren Sinne füge und nicht Partei gegen den Kindesvater ergreife. Er wolle nicht zurück zu seiner Mutter, er wolle zu seinem Vater, er wolle vorerst auch keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter haben.
Seit dem 28.06.2018 lebt … ohne Kontakt zu seiner Mutter aufgenommen zu haben im Haushalt seines Vaters in .im Land Brandenburg. Der Kindesvater ist wieder verheiratet. Die Ehefrau und das etwa 1 1/2 Jahre alte Kind … wohnen mit im Haushalt in lehnt jegliche Kontaktaufnahme zur Mutter unter Hinweis auf die Vorfälle vom 28.06.2018 kategorisch ab. … besucht in … die Goethe-Grundschule und wird nach den Sommerferien in die 6. Klasse wechseln. Nach seiner eigenen Bekundung in der Anhörung durch den Senat am 23.06.2020 ist er nach dem Abschlusszeugnis für die 5. Klasse der Klassenbeste bei einer Schülerzahl von 16.
Trotz vielfältiger Empfehlungen und diverser Beratungsansätze ist es den Kindeseltern in den vergangenen 6 Jahren nicht gelungen, eine kooperative Basis für ein konstruktives Zusammenwirken im Interesse des Kindes … zu finden.
Das Amtsgericht hat zunächst die Dipl.-Psych. … mit der Erstellung eines familienpsychologischen Gutachtens beauftragt. Es sollte geklärt werden, ob ein Fortbestand der gemeinsamen elterlichen Sorge von Antragstellerin und Antragsgegner in Betracht käme und für den Fall, dass diese zu verneinen wäre, bei welchem Elternteil die Alleinsorge für … am besten gelinge. Mit ihrem schriftlichen Gutachten vom 05.10.2018 hat die Sachverständige … dem Fortbestand der gemeinsamen elterlichen Sorge eine klare Absage erteilt. In der Annahme, dass … an beide Eltern “positiv gebunden” sei und sein kindlicher Wille beim
Vater weiterhin leben zu wollen, “derzeit” nicht zur Beantwortung der gerichtlichen Fragestellung herangezogen werden könne, sei die Kindesmutter besser in der Lage, das Kind zu betreuen und zu erziehen. In einer weiteren Stellungnahme vom 21.02.2019 hat die Sachverständige … die Herausnahme von … aus dem väterlichen Haushalt und die “externe Unterbringung” des Kindes empfohlen. Dies sei zur Abwehr von psychischen Schäden geboten. Der entgegenstehende kindliche Wille von … sei aus psychologischer Sicht “kindeswohlgefährdend”, weshalb ihm nicht zu folgen sei.
Im April 2019 hat das Amtsgericht mit derselben Fragestellung und dem erneuten Auftrag, ein familienpsychologisches Gutachten einzuholen, den Sachverständigen Dipl.-Psych. … aus … beauftragt. Dieser hat – wie schon die Sachverständige … – die Auflösung der gemeinsamen Sorge befürwortet und ebenfalls die Kindesmutter als besser erziehungsgeeignet eingeschätzt. Der Kindesvater sei nicht in der Lage, dem Kind ein positives Bild von der Kindesmutter zu vermitteln. Es werde ein schädlicher Einfluss auf … genommen. Das habe seine Ursachen auch in einer psychischen Erkrankung des Vaters. Er habe sich am 02.04.2013 bei dem in Schwerin ansässigen Facharzt für Psychiatrie Dr. … mit Verstimmungszuständen vorgestellt. Aus dessen Aufzeichnungen über das an diesem Tag mit dem Kindesvater geführten Gespräch ergäbe sich, dass dieser bis heute an einer unbehandelten psychischen Erkrankung mit “wahnhaften Störungen” leide, die er an … übergebe. Das entspreche auch den Wahrnehmungen während der Begutachtung. Weil aber wegen des massiven Widerstands von … gegen seine Rückführung zur Kindesmutter mit kindeswohlgefährdenden Aktionen zu rechnen sei, sollte … zunächst in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär untergebracht werden, um mit einer kinderpsychiatrischen Diagnostik und mit therapeutischen Maßnahmen eine Wiederannäherung an die Kindesmutter zu ermöglichen.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 23.04.2020 hat das Amtsgericht unter vollständiger Übernahme der Empfehlung des Dipl.-Psych. … der Kindesmutter die elterliche Alleinsorge für … übertragen und die vorgeschlagene Anordnung getroffen, … zunächst in eine stationäre Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu verbringen. Der alldem massiv entgegenstehende Wille … sei zwar wegen dessen Alter (11 Jahre) zu berücksichtigen,
führe aber nicht zu einer anderen Entscheidung. Schon damals beim vollständigen Bruch … mit der Mutter am 28.06.2018 sei Urheber der kindlichen Verzweiflung der Kindesvater gewesen. Das erschließe sich vor dem Hintergrund seiner psychischen Erkrankung, die sein Realitätsbild verzerre, welches er auf den Jungen übertrage, und zwar so stark, dass … sich dieses falsche Realitätsbild zu Eigen mache. … spiele also nichts vor, er nehme den Konflikt der Eltern als solchen wahr und sei im tiefsten Herzen überzeugt davon, dass seine Mutter böse sei, die ihm Böses wolle und Böses tue.
Gegen die Entscheidung des Amtsgerichts haben der Kindesvater und das Jugendamt Beschwerde eingelegt. Sie halten die Entscheidung des Amtsgerichts für falsch. Der Dipl.-Psych. … sei schon mangels entsprechender Qualifikation als Arzt bzw. approbierter Psychiater fachlich nicht in der Lage, seinen Äußerungen über eine schwerwiegende psychische Erkrankung des Kindesvaters eine tragfähige Grundlage zu geben. Überdies seien auch die benannten Anknüpfungstatsachen unzureichend. Schließlich sei die Entscheidung des Amtsgerichts aber auch deshalb fehlerhaft, weil sie den Kindeswillen vernachlässige, was bei einem fast 12jährigen Jungen nicht möglich sei und dazu führen würde, dass allein schon die zwangsweise Verbringung des Kindes in eine stationäre Unterbringung aber auch der zwangsweise Aufenthalt dort eine Kindeswohlgefährdung darstellen würden.
Der Kindesvater und der Fachdienst Jugend beantragen übereinstimmend,
den Beschluss des Amtsgerichts Schwerin vom 23.04.2020 aufzuheben und dem Kindesvater die alleinige elterliche Sorge für das Kind …, geb. am .2008, zu übertragen.
Die Kindesmutter beantragt,
beide Beschwerden zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Amtsgerichts unter wesentlicher Zugrundelegung des Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Psych. … für richtig. Es zeige keinerlei Fehler auf, insbesondere nicht solche, die dazu führen, dass das Gericht eine andere Entscheidung treffen könnte. Eine Abweichung vom Gutachten sei nur dann möglich, wenn das Gericht darlege, dass es bessere Sachkenntnisse als der Gutachter habe. Andernfalls müsse ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt werden, was die Kindesmutter im Anhörungstermin vom 23.06.2020 beantragt hat.
Der Senat hat … im Beisein seines Verfahrensbeistands am 23.06.2020 angehört. Wegen der Einzelheiten hierzu wird auf den über die Anhörung gefertigten Vermerk verwiesen. In der anschließenden nicht-öffentlichen Sitzung hat der Senat die Kindeseltern, den Verfahrensbeistand und die Vertreterinnen des Fachdienstes Jugend beim Landkreis Ludwigslust Parchim angehört. Insoweit wird auf die hierüber gefertigte Niederschrift vom 23.06.2020 verwiesen. Der Verfahrensbeistand hält an seiner geäußerten Auffassung fest, wonach die gemeinsame elterliche Sorge für . aufzuheben und die Alleinsorge der Kindesmutter zu übertragen sei.
II.
Die gemäß § 58 Abs. 1 FamFG statthaften und im Übrigen in zulässiger Weise, insbesondere form- und fristgerecht eingelegten Rechtsmittel des Kindesvaters und des Fachdienstes Jugend beim Landkreis Ludwigslust-Parchim sind begründet.
Gemäß § 1671 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 BGB ist auf Antrag die gemeinsame elterliche Sorge aufzuheben und einem Elternteil allein zu übertragen, wenn die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf ein Elternteil dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Vor diesem Hintergrund ist eine doppelte Kindeswohlprüfung durchzuführen. Dabei ist zu prüfen, ob die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf einen der antragstellenden Elternteile dem Kindeswohl am besten entspricht.
Die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung setzt eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus und erfordert daher ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen (BVerfG, FamRZ 2004, 354). Fehlt es an der Kooperationsfähigkeit und der Kooperationsbereitschaft der Eltern und sind diese Voraussetzungen – prognostisch – auch für die Zukunft nicht zu erwarten, ist die gemeinsame elterliche Sorge aufzulösen und demjenigen Elternteil zuzuweisen, bei dem das Wohl des Kindes am besten gewahrt zu werden verspricht (OLG Köln, MDR 2012, 1346).
Die Voraussetzungen für die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge liegen ersichtlich vor.
Der Senat hat keinerlei Zweifel daran, dass es schon an einem Mindestmaß an Kooperationsund Kommunikationsfähigkeit beider Elternteile fehlt. Es besteht zwischen ihnen offensichtlich auch keinerlei gemeinsame Basis mehr, um für … ein gemeinsames Sorgerecht auszuüben. Die von beiden Seiten geschilderten massiven Kommunikationsdefizite äußern sich in gegenseitigen Vorwürfen, Forderungen und Misstrauen. Die Vielzahl zwischen den Eltern geführten, gerade auch kindschaftsrechtlichen Verfahren belegt die heillose Zerstrittenheit der Eltern, unabhängig davon, wer die Einleitung der Verfahren veranlasst hat. Beide Elternteile sind nicht in der Lage, sich einvernehmlich im Interesse des Kindes zu verständigen. Die im erstinstanzlichen Verfahren hinzugezogenen Sachverständigen bestätigen, dass eine gemeinsame Sorgerechtsausübung in keiner Weise mehr möglich ist. Der Senat schließt sich insoweit den sehr gut nachvollziehbaren und schlüssigen Einschätzungen der Sachverständigen … und … an. Hat doch der von den Eltern hinterlassene Eindruck in der Anhörung vom 23.06.2020 diese gutachterlichen Einschätzungen vollständig bestätigt.
Entgegen der Auffassung des durch zwei Sachverständige beratenen Amtsgerichts entspricht es dem Kindeswohl aber am besten, nach Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge die Alleinsorge für … auf den Kindesvater allein zu übertragen.
Für diese – abändernde – Entscheidung liegen die Voraussetzungen von § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB vor. Danach ist alleiniger Maßstab dafür, welchem Elternteil das alleinige Sorgerecht zu übertragen ist, das Wohl des betroffenen Kindes (vgl. § 1697 a BGB). Gewichtige Gesichtspunkte des Kindeswohls sind die Erziehungseignung der Eltern, die Bindung des Kindes, die Prinzipien der Förderung und der Kontinuität sowie die Beachtung des Kindeswillens. Die einzelnen Kriterien stehen dabei letztlich nicht wie Tatbestandsmerkmale kumulativ nebeneinander. Jedes von ihnen kann im Einzelfall mehr oder weniger bedeutsam für die Beurteilung sein, was dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Erforderlich ist eine alle Umstände des Einzelfalls abwägende Entscheidung. Hierbei sind alle von den Verfahrensbeteiligten vorgebrachten Gesichtspunkte in tatsächlicher Hinsicht soweit wie möglich aufzuklären und unter Kindeswohlgesichtspunkten gegeneinander abzuwägen, um eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen.
Der Senat ist bei der unter diesen Gesichtspunkten vorgenommenen Überprüfung der amtsgerichtlichen Entscheidung und unter Beachtung der Ausführungen des Fachdienstes Jugend beim Landkreis Ludwigslust-Parchim zu der Überzeugung gelangt, dass es dem Wohl von … am besten entspricht, wenn der Antragsgegner als Kindesvater das Sorgerecht allein ausübt.
Unter abwägender Gesamtbetrachtung ist ausschlaggebend hierfür die Bindung des Kindes … an seinen Vater, die Prinzipien der Förderung und der Kontinuität in der Familie des Kindesvaters in … sowie die Beachtung des Kindeswillens.
… hat am 28.06.2018, also vor über zwei Jahren, jeglichen Kontakt zu seiner Mutter in … abgebrochen. Dass er dabei von Frau … vom AJW, von Frau … vom Fachdienst Jugend beim Landkreis Ludwigslust-Parchim und letztlich auch vom Kindesvater unterstützt wurde, macht die mit weitreichenden Konsequenzen verbundene Verzweiflungstat des Kindes nicht zu einem unmaßgeblichen Umstand für die Sorgerechtsentscheidung. Hat … doch noch bei seiner Anhörung vor dem Senat am 23.06.2020 die Abläufe an diesem Tag so eindrucksvoll und detailliert beschrieben, als wäre es erst gestern gewesen, dass er in einer Art Flucht aus dem mütterlichen Haushalt weggegangen ist. Auch die für ihn maßgeblichen Umstände konnte … bei seiner Anhörung am 23.06.2020 noch sehr nachvollziehbar und eindrucksvoll schildern. Er fühlte sich von seiner Mutter und ihrer Familie weitestgehend ausgegrenzt, wenn er sich nicht bedingungslos gegen den Vater stellt, mithin also im Familienverband der Mutter nicht gefügig ist. Wenn … davon spricht, dass er in jener Zeit ständig Rechenschaft darüber ablegen musste, was er mit dem Kindesvater und der Beraterin Frau . besprochen habe, so fühlte er sich erniedrigt und ausgefragt und musste sich in jeder Phase gut überlegen, welche Antwort er seiner Mutter auf die entsprechenden drängenden Fragen gegeben hat. Dass … in seiner Not letztlich durch die genannte Unterstützung von seinem Vater abgeholt und nach . gebracht wurde, hat er als eine Art Befreiung empfunden und mit diesem Tag auch in letzter Konsequenz jeglichen Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen. Der Senat hat bei der Bewertung der Äußerungen von … bei seiner Anhörung am 23.06.2020 keinerlei Anlass davon auszugehen, dass … eine ihm vom Kindesvater “eingetrichterte” Version der Abläufe vom 28.06.2018 geschildert hat. … war bei seinen Schilderungen von diesem Tag so heftig angerührt, dass er mehrere Male in Tränen ausbrach und sich nur langsam wieder beruhigen konnte, indem er seine Hand auf den Brustkorb legte. Der Senat verfügt aufgrund langjähriger Praxis in Kindesanhörungen über die Erfahrung und den hieraus abgeleiteten Sachverstand, dass dies ein 11 bzw. 12 Jahre altes Kind mit dem Reifegrad von … nicht vorspielen kann. Die Anrührung und die innere Anteilnahme . bezogen auf die jetzt schon zwei Jahre zurückliegenden Vorgänge waren noch in jeder Phase der Anhörung dem Kind anzumerken.
Fest steht damit für den Senat, dass eine Bindung des Kindes zur Mutter jedenfalls derzeit in keiner Weise mehr besteht. Mithin ist eine der beiden wesentlichen Grundlagen für die von der Sachverständigen … im Gutachten vom 05.10.2018 der Kindesmutter zugeschriebenen besseren Erziehungseignung vollständig entfallen. Dass … es sich letztlich nicht nehmen lässt, im Falle einer Bestätigung der Alleinsorge des Vaters und eines gesicherten Fortbestands seines gewöhnlichen Aufenthalts bei diesem mit vorsichtigen Schritten wieder auf seine Mutter zugehen zu wollen mit Unterstützung von vertrauten Beratern, zeigt, dass das Kind eben gerade nicht – wie der Dipl.-Psych. … in diesem Punkt meint – unter einem sklavischen psychischen Zwang durch den Kindesvater steht. Denn dann wäre … quasi das willenlose Instrument seines mit einer schweren psychischen Erkrankung belasteten Vaters und zu einer eigenständigen Meinungsbildung in Bezug auf die Mutter nicht in der Lage. Solches konnte der Senat aber in keiner Weise feststellen. Auch die Schlussfolgerung des Sachverständigen …, Ursache für die eklatartige Trennung … von der Mutter am 28.06.2018 sei das Wirken des von einer schweren psychischen Erkrankung belasteten Vaters gewesen, der seine wahnhaften Vorstellungen von der Mutter auf … übertragen habe, erscheint dem Senat in keiner Weise schlüssig bzw. plausibel, geschweige denn durch die Kindesanhörung bestätigt. Denn der Sachverständige, der die Einflussnahme des Vaters durch die Herausnahme des Kindes aus dem väterlichen Haushalt beseitigen möchte, erläutert den Weg der Einflussnahme auf … für den Zeitpunkt 28.06.2020 nicht näher. Dessen hätte es aber angesichts der schweren Belastungen schon deshalb bedurft, weil … zu diesem Zeitpunkt noch bei der Mutter gelebt hat, es also gerade nicht schlüssig und plausibel erscheint, dass die räumliche Nähe zum Vater die Ursache für das Wirken der negativen Einflussnahme gewesen sein kann.
Der Senat vermag aber auch nach eingehender Prüfung der abschließenden Empfehlung des Sachverständigen … den vorgeschlagenen Wechsel zurück zur Mutter über den Umweg einer stationären Unterbringung nicht zu folgen. Für kindeswohlgefährdende, vom Kind aber nicht bemerkte Auswirkungen einer beim Kindesvater vermeintlich festgestellten schweren psychischen Störung gibt es keine nachvollziehbaren bzw. plausiblen Anknüpfungstatsachen. Der vom Sachverständigen … als wesentliche Grundlage seines Gutachtenergebnisses eingeschätzte Besuch des Kindesvaters im April 2013 bei Herrn Dr. med. …, einem niedergelassenen Psychiater in Schwerin, vermag den Nachweis des Vorliegens einer schweren unbehandelten psychischen Störung beim Kindesvater nicht zu erbringen. Denn es wird außer Acht gelassen, dass Dr. … im Nachgang die schriftliche Erklärung abgegeben hat, dass seinerseits keine gesicherte Diagnose für eine psychische Erkrankung beim Kindesvater gestellt werden kann und es nicht den geringsten Grund gibt, den Kindesvater gegen seinen Willen stationär psychiatrisch behandeln zu lassen. Ganz abgesehen davon vermochte es Dipl.-Psych. … auch nicht schlüssig und nachvollziehbar darzulegen, auf welche Weise es zu der von ihm angenommenen Übertragung einer solchen Störung auf das Kind kommen soll, welche konkreten negativen und das Kindeswohl gefährdenden Auswirkungen dies auf das Kind haben soll und insbesondere wie es sein kann, dass das Kind die negativen Wirkungen – derzeit – nicht wahrnimmt.
Damit ist aber das Ergebnis der Begutachtung durch den Dipl.-Psych. … kritisch in Frage zu stellen und bei der zu treffenden Sorgerechtsentscheidung nur sehr eingeschränkt verwertbar. Denn für die vom Sachverständigen beschriebenen negativen Auswirkungen auf das Kind … gibt es weder nach der Kindesanhörung durch den Senat noch nach den sonst mitgeteilten Umständen im väterlichen Haushalt ernstzunehmende Gründe. … fühlt sich bei seinem Vater in … und seiner neuen Familie wohl. Deutliches Beispiel hierfür sind seine schulischen Leistungen und sein angenehmes Verhältnis zu seiner Stiefschwester … und deren Mutter. Wenn der Sachverständige … mit seiner Äußerung richtig läge, würde … durch die vermeintlich bei seinem Vater festgestellte psychische Erkrankung leiden, was sich insgesamt auf seinen Seelenzustand aber auch auf seine Fähigkeit, gute schulische Leistungen zu erbringen, negativ auswirken würde. Nichts von dem konnte der Senat bei der Anhörung des Kindes am 23.06.2020 feststellen. Für den Senat ist insbesondere in keiner Weise nachvollziehbar bzw. plausibel geworden, wenn der Sachverständige meint, die vom Kindesvater vermeintlich ausgehenden psychischen Störungen auf das Kind würden von diesen derzeit nicht bemerkt werden, was gleichwohl aber eine Kindeswohlgefährdung darstellen würde.
Dem Dipl.-Psych. … dürfte im Übrigen auch die fachliche Kompetenz fehlen, die von ihm im Gutachten gemachte Feststellung zu treffen, der Kindesvater leide an Wahnvorstellungen. Der Diplompsychologe ist kein approbierter Arzt und schon gar kein Facharzt für Psychiatrie. Demzufolge dürften die von Herrn … auf eigene Wahrnehmungen gestützten Einschätzungen über eine kindeswohlgefährdende Erkrankung des Kindesvaters schon mangels Fachkompetenz nicht relevant sein.
Die Übertragung der Alleinsorge für … auf den Kindesvater entspricht den Prinzipien der Förderung und der Kontinuität.
Allein aus den Schilderungen des nahezu 12 Jahre alten … wird deutlich, dass er im väterlichen Haushalt seit über zwei Jahren gut eingegliedert ist und in der neuen Familie seines Vaters die bestmögliche persönliche und schulische Förderung erfährt. …, der gerade die 5. Klasse der Grundschule in … abgeschlossen hat, ist dort Klassenbester mit Ergebnissen, wie man sie sich für ein etwa 12 Jahre altes Kind nur wünschen kann. Irgendwelche Entwicklungsdefizite oder Defizite bei der schulischen Betreuung des Kindes … sind in keiner Weise sichtbar geworden.
Letztendlich ist die Übertragung der Alleinsorge auf den Kindesvater hier deshalb anzuordnen, weil . sich dies sehnlichst wünscht.
Der Senat hat sowohl die betroffenen Grundrechtspositionen der Elternteile als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 31, 194 ff.). Hierbei ist in den Blick zu nehmen, dass das Kind mit der Kundgabe seines Willens von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch macht und seinem Willen mit zunehmenden Alter vermehrt Bedeutung zukommt. Ab einem Alter von 11 bzw.12 Jahren ist der Kindeswille ein entscheidender Maßstab für alle umgangs- bzw. sorgerechtlichen Entscheidungen in Bezug auf die Kindeseltern (OLG Stuttgart, FamRZ 2015, 1727 ff, Rn. 19 [zitiert nach juris]). Ein gegen den ernsthaften Widerstand des Kindes erzwungener Aufenthalt bei einem Elternteil, zu dem das Kind seit zwei Jahren jeglichen Kontakt abgebrochen hat, kann durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit mehr Schaden verursachen als Nutzen. Selbst ein auf einer bewussten oder unbewussten beeinflussten beruhender Wunsch kann beachtlich sein, wenn er Ausdruck echter und damit schützenswerter Bindung ist. Das außer Acht lassen des beeinflussten Willens ist daher nur dann gerechtfertigt, wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes den wirklichen Bindungsverhältnissen nicht entsprechen.
Unter Beachtung dieser vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze kann der Senat letztlich nicht umhin, den von … nunmehr seit mehreren Jahren zum Ausdruck gebrachten Willen zur Geltung zu bringen, dass er bei seinem Vater und seiner neuen Familie in … seinen gewöhnlichen Aufenthalt haben möchte und eine unbegleitete Kontaktaufnahme zu seiner Mutter vehement ablehnt. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb bei dieser von … eingenommenen Haltung die vermeintlich dem Kindesvater zugeschriebene psychische Erkrankung eine Rolle spielen könnte. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, auf welche Art und Weise die vom Dipl.-Psych. … dem Kindesvater zugesprochenen wahnhaften Vorstellungen auf … übergehen sollen. Ganz abgesehen davon hat der Senat bei der Anhörung von … am 23.06.2020 keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer derartigen Beeinflussung feststellen können. … ist als aufgeschlossener und jederzeit orientierter junger Mensch den Mitgliedern des Senats gegenüber getreten. Auch seine Schilderungen über den Vorfall vom 28.06.2018 waren nicht durch irgendwelche ungewöhnlichen psychischen Ausfallerscheinungen begleitet.
Es überzeugt auch nicht, wenn der Sachverständige Dipl.-Psych. … die Auffassung vertritt, … bemerke die durch die psychische Erkrankung des Vaters gegebene negative und kindeswohlgefährdende Beeinflussung nicht, gleichwohl liege aber für … eine Kindeswohlgefährdung vor, wenn er sich noch länger im Einflussbereich des Vaters aufhalte.
Diese Einschätzung erschließt sich dem Senat nicht als logisch. Entweder es liegt eine massive Kindeswohlgefährdung durch eine psychische Erkrankung des Vaters vor, dann ist sie auch dem Jungen anzumerken oder sie liegt nicht vor, dann gibt es aber auch keinen Grund anzunehmen, eine kindeswohlgefährdende Beeinflussung liege nur als “Hintergrund” vor.
Soweit die Kindesmutter einwendet, der Senat dürfe über die vom Kindesvater und vom Fachdienst Jugend eingelegten Rechtsmittel nicht ohne Einholung eines weiteren Gutachtens entscheiden, trifft dies nicht zu.
Gemäß § 29 Abs. 1 FamFG erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise in geeigneter Form. Das hat der Senat getan. Die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens ist nicht zwingend und im vorliegenden Verfahren auch nicht erforderlich. Ob das Gericht ein Sachverständigengutachten einholt, liegt nämlich in seinem pflichtgemäßen Ermessen (vgl. § 163 Abs. 1 FamFG i.v.m. § 30 Abs. 1 FamFG). Erforderlich ist die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann, wenn die sonstigen Ermittlungen oder Ermittlungsmöglichkeiten des Gerichts keine zuverlässige Entscheidungsgrundlage bieten. Zudem ist ein zu erwartender Erkenntnisgewinn aus einem weiteren Gutachten gegen die Belastung des Kindes und die mit der erheblichen Verlängerung der Verfahrensdauer verbundenen Nachteile abzuwägen (vgl. Prütting/Helms*/Hammer, FamFG, 4. Aufl., § 163 FamFG, Rn. 2 und 5). Der Senat hat die bezogen auf die Ausführungen des Dipl.-Psych. Andre noch offenen Fragen nach dem Ergebnis der Anhörung des Kindes zuverlässig klären können. Ein weiteres Gutachten würde keinen entscheidungserheblichen Erkenntnisgewinn mehr erwarten lassen. Zumal die Kindesmutter übersieht, dass auch ohne eine Begutachtung durch Sachverständige feststellbar ist, dass eine Rückführung des Kindes … entgegen des ausdrücklich erklärten Kindeswillen schon für sich genommen eine Kindeswohlgefährdung darstellt. Zwar wird dies in den Gründen der amtsgerichtlichen Entscheidung nicht mit dieser Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Letztlich hat aber auch das Amtsgericht seine Anordnung der stationären psychiatrischen Unterbringung von … im Zuge seiner – zwangsweisen _ Rückführung zur Mutter auf § 1666 BGB gestützt, um den Versuch zu unternehmen, eine Kindeswohlgefährdung durch das Brechen des kindlichen Willens zu vermeiden. Damit wird aber deutlich, dass jede Art der Rückführung des Kindes … in den Haushalt der Kindesmutter – ob mit oder ohne vorherige stationäre Diagnostik bzw. Behandlung – eine Kindeswohlgefährdung darstellt, die jedoch unter keinen Umständen hinnehmbar ist. Denn letztlich würde das bedeuten, dass die nach Auffassung des Sachverständigen … im väterlichen Haushalt gegebene Kindeswohlgefährdung mit einer erneuten Kindeswohlgefährdung bei der Rückführung behoben werden soll.
Nach Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist die alleinige elterliche Sorge somit gemäß § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB auf den Kindesvater allein zu übertragen, da zu erwarten ist, dass dies dem Wohl des Kindes … am besten entspricht. … lebt seit mehr als zwei Jahren im Haushalt des Vaters, dieser ist zu seiner Hauptbezugsperson geworden. Der Vater ist in den Alltag von … eingebunden und hat daher Kenntnis über seine Lebensverhältnisse und auch über die Umstände, die für die Entscheidung in sorgerechtlichen Angelegenheiten von Bedeutung sind. Die dem Kindesvater von der Sachverständigen … und vom Sachverständigen … zugeschriebenen Defizite bei der Erziehungseignung für das Kind . sind im Ergebnis einer Nachprüfung jedenfalls nicht als so schwerwiegend anzusehen, dass der weitere Verbleib beim Kindesvater als eine Kindeswohlgefährdung gewertet werden könnte. Letztlich tragender Grund für die Übertragung der Alleinsorge auf den Kindesvater ist der Kindeswille, der in einem Alter von fast 12 Jahren so beachtlich ist, dass er hier als ausschlaggebend angesehen werden muss. Dies gilt auch, wenn der Kindeswille bewusst oder unbewusst durch ein Elternteil beeinflusst ist. Auch der beeinflusste Kindeswille ist beachtlich, denn seine Nichtbeachtung stellt einen massiven Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Kindes dar und würde letztlich eine Kindeswohlgefährdung bedeuten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 FamFG. Die Festsetzung des Verfahrenswerts erfolgt gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG.
Die Entscheidungen zur Verfahrenskostenhilfe beruhen darauf, dass das Rechtsmittel des Kindesvaters Erfolg hat (§ 114 Abs. 1 ZPO) und bei der Antragstellerin die Voraussetzungen des §§ 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO vorliegen, wonach demjenigen Verfahrenskostenhilfe in einem höheren Rechtszug zu bewilligen ist, wenn der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat.
OLG Rostock, Beschloss vom 02.07.2020
10 UF 68/20
AG Schwerin, Beschluss vom 23.04.2020
20 F 202/14
Der Beschluss wurde dem BVerfG vorgelegt und zwischenzeitlich entschieden (1 BvR 1839/20 und 1 BvR 1750/21))