OLG Stuttgart: Befristeter Umgangsausschluss aufgrund der Ablehnungshaltung eines 13jährigen Kindes

OLG Stuttgart: Befristeter Umgangsausschluss aufgrund der Ablehnungshaltung eines 13jährigen Kindes

I.

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Stuttgart vom 03.11.2023 in Ziff. 1 der Entscheidungsformel abgeändert.

1.

Das Recht des Vaters zum persönlichen Umgang mit dem Kind N. E. , geb. .2011, wird bis 04.06.2026 ausgeschlossen.

Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragsgegners zurückgewiesen.

II.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Antragsgegner.

III.

Der Verfahrenswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 4.000,00 Euro festgesetzt.

IV.

Das Verfahrenskostenhilfegesuch des Antragsgegners für das Beschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.

Gründe

I.

Die Antragstellerin und der Antragsgegner sind geschiedene Eheleute und Eltern des Kindes N. E., geb. .2011. N. lebt seit der Trennung seiner Eltern im Jahr 2015 bei seiner Mutter.

Der letzte Umgang von N. mit seinem Vater fand im Dezember 2018 statt. Der Umgang wurde danach durch Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Stuttgart vom 19.03.2020 (Az.: 70 F 5/19) bis zum 31.01.2022 ausgeschlossen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Vaters wurde mit Beschluss des Senats vom 21.12.2020 (Az.: 17 UF 84/20) zurückgewiesen. Auf den Beschluss vom 21.12.2020, in dem auch der frühere Verlauf der Umgangsangelegenheit seit dem Jahr 2015 näher dargestellt ist, wird verwiesen.

Die Kindesmutter hat mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 11.01.2022 das vorliegende Hauptsacheverfahren eingeleitet und beantragt, die Aussetzung des Umgangs des Kindesvaters über den 31.01.2022 hinaus aufrechtzuerhalten. Zur Begründung hat sie vorgetragen, ein Umgang entspreche weiterhin nicht dem Kindeswohl. Die bisherige Aussetzung habe zu einer Beruhigung von N. geführt. Allerdings sei der Gesundheitszustand des Jungen weiterhin nicht so stabil, dass ein Umgang befürwortet werden könne. Bei einer Wiederaufnahme der Umgänge sei zu befürchten, dass die erreichten Fortschritte zunichte gemacht würden.

Der Kindesvater ist dem Antrag entgegengetreten. Er hat beantragt, den Umgang so zu regeln, wie es dem Kindeswohl am besten entspricht, wobei er vorgeschlagen hat, dass sechs begleitete Umgangskontakte stattfinden und sodann, nach einer Auswertung, über die weitere Umgangsregelung entschieden wird.

Das Amtsgericht hat Diplom-Sozialpädagogin L., … zum Verfahrensbeistand für N. bestellt und ein schriftliches Sachverständigengutachten zur Umgangsfrage bei Prof. Dr. …, Stuttgart, in Auftrag gegeben.

Ein Befangenheitsantrag des Vaters gegen den Sachverständigen vom 21.09.2022 wurde mit Beschluss des Amtsgerichts vom 22.11.2022 für unbegründet erklärt.

Der Vater hatte es zunächst abgelehnt, an einer Begutachtung mitzuwirken. Der Sachverständige hat sodann in seinem ohne Einbeziehung des Vaters erstellten Gutachten vom 09.02.2023 auf das Problemverhalten des Vaters und die psychische Vulnerabilität von N. hingewiesen und u.a. eine Aussetzung des Umgangs für weitere zwei Jahre empfohlen.

In der mündlichen Verhandlung vom 24.04.2023 hat sich der Kindsvater dann doch zu einer Zusammenarbeit mit dem Sachverständigen bereit erklärt. Der Sachverständige wurde daraufhin gebeten, seine Begutachtung unter Einbeziehung des Vaters fortzuführen.

Am 08.05.2023 wurde N. in Anwesenheit von Frau L. durch die Amtsrichterin persönlich angehört. Er brachte hierbei zum Ausdruck, dass er sich Umgangskontakte mit dem Vater vorstellen könne. Auf den über die Anhörung gefertigten Vermerk wird verwiesen.

Nach einer Exploration des Kindsvaters hat der Sachverständige am 21.06.2023 eine „1. Ergänzung“ zu seinem Sachverständigengutachten („Zwischenbericht“) vorgelegt und hierin begründet, dass und weshalb als nächster Schritt im Rahmen der Begutachtung eine Zusammenführung von Vater und Sohn im Beisein des Gutachters stattfinden solle.

Nach dem Zusammentreffen von Vater und N. hat der Sachverständige am 10.07.2023 eine „2. Ergänzung“ zu seinem Gutachten („Abschlussbericht“) vorgelegt und darin empfohlen, den Umgang des Vaters mit N. bis zum Erreichen des 14. Lebensjahres des Kindes auszusetzen und ihm dann die Möglichkeit zu geben, ohne formale Umgangsregelung selbst zu entscheiden, ob und wann er seinen Vater sehen will. Der Sachverständige schildert in dem Gutachten das Zusammentreffen des Vaters mit dem Jungen, das am 05.07.2023 stattgefunden hat. N. habe dabei hinsichtlich der Umgänge mit dem Vater erklärt, dass er es sich nun anders überlegt habe und sei in der Folge bei einer zögernden bzw. ablehnenden Haltung zu Umgängen geblieben. Nachdem der Vater den Raum verlassen hatte, habe N. zum Sachverständigen gesagt, dass er sich sicher sei, dass er keine Umgänge mit dem Vater wolle. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten sodann zusammenfassend ausgeführt, dass der Umgang zwischen dem Vater und N. aufgrund der Weigerung des Jungen nicht mehr aufgenommen werden könne. Der Wunsch des Kindes sei „im eigenen Erleben und in authentischen Abwägungen des Kindes begründet“, könne in seiner allmählichen Entstehung nachvollzogen werden und dürfe nicht ignoriert werden. Durch Umgänge gegen den Willen des (damals) 12jährigen Kindes würden seine Autonomie und Selbstwirksamkeit beschädigt.

In einem Schreiben vom 08.08.2023 erklärte der Vater u.a., dass er sich bei dem Zusammentreffen habe davon vergewissern können, dass sich N. gut entwickelt hat, und dass er N.s Entscheidung respektiere.

Eine Beschleunigungsrüge des Vaters hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 19.09.2023 zurückgewiesen.

Am 30.10.2023 hat die Amtsrichterin N. in Anwesenheit von Frau L. nochmals persönlich angehört. Er erklärte dabei, dass das Zusammentreffen mit dem Vater „blöd“ gewesen sei und dass er keine Kontakte mit seinem Vater mehr wolle; er wolle auch keine Kontakte in Form von Telefonaten oder Briefen.

Am selben Tag wurde die Angelegenheit mit den Beteiligten in einem Termin erörtert. Hierbei hat der Sachverständige sein schriftliches Gutachten erläutert und ergänzt. Bei seiner Empfehlung eines Umgangsausschlusses ist er geblieben. Der Vater hat ausgeführt, dass der Sohn manipuliert worden sei und er deshalb seine Meinung geändert habe.

Das Amtsgericht hat sodann mit Beschluss vom 03.11.2023 entschieden:

1.

Das Recht des Vaters zum persönlichen Umgang mit seinem Sohn N. E., geboren am .2011, wird bis zum 12.03.2025 ausgeschlossen.

2.

Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Auf den Beschluss vom 03.11.2023 wird verwiesen.

Gegen diesen Beschluss hat der Antragsgegner mit Schreiben vom 23.11.2023, das am folgenden Tag beim Amtsgericht einging und das mit den Worten „Sofortige Beschwerde und Zurückweisung des Beschlusses vom 03.11.2023“ überschrieben ist, Beschwerde eingelegt. Der Antragsgegner kritisiert in dem Schreiben insbesondere das Verhalten der Kindesmutter und das Vorgehen des Amtsgerichts und er beanstandet die Ausführungen des Sachverständigen.

Die Antragstellerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerde und verteidigt den angefochtenen Beschluss.

Frau L. als Verfahrensbeistand sowie die Vertreterin des Jugendamts haben schriftlich Stellung genommen. Sie haben sich in der Sache gegen Umgänge von N. mit dem Vater ausgesprochen.

Ein weiteres Ablehnungsgesuch des Vaters gegen den Sachverständigen Prof. Dr. … wurde mit Beschluss des Senats vom 05.03.2024 zurückgewiesen.

Eine Beschleunigungsrüge des Vaters vom 19.02.2024 hat der Senat mit Beschluss vom 12.03.2024 zurückgewiesen. Eine weitere Beschleunigungsrüge des Vaters vom 22.03.2024 wurde mit Beschluss vom 18.04.2024 zurückgewiesen.

Am 04.06.2024 hat der Senat N. in Anwesenheit von Frau L. sowie von Prof. Dr. … nochmals persönlich angehört. N. hat hierbei zum Ausdruck gebracht, dass er Umgänge mit dem Vater ablehnt. Auf den über die Anhörung gefertigten Vermerk wird verwiesen.

Die Angelegenheit wurde anschließend mit den Beteiligten in einem Termin erörtert, an dem der Antragsgegner unter Verweis auf § 12 FamFG mit einer Begleitperson teilgenommen hat. Hierbei hat der Sachverständige seine bisherigen Ausführungen unter Berücksichtigung des Ergebnisses der erneuten Kindesanhörung erläutert und ergänzt. Die Beteiligten wurden angehört.

Wegen der Einzelheiten, insbesondere wegen des Vorbringens der Beteiligten in beiden Rechtszügen, wird auf die Gerichtsakten verwiesen.

II.

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners hat in der Sache keinen Erfolg. Das Rechtsmittel führt vielmehr zu einer Abänderung des angefochtenen Beschlusses in der Weise, dass der Umgang bis 04.06.2026, also über den in dem angefochtenen Beschluss enthaltenen Zeitpunkt hinaus, ausgeschlossen wird.

1.

Das Umgangsrecht eines Elternteils steht unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Es ermöglicht dem umgangsberechtigten Elternteil, sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung fortlaufend persönlich zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten, einer Entfremdung vorzubeugen und dem Liebesbedürfnis Rechnung zu tragen. Eine Einschränkung oder der Ausschluss des Umgangsrechts kommen verfassungsrechtlich dann in Betracht, wenn nach den Umständen des Einzelfalls der Schutz des Kindes dies erfordert, um eine Gefährdung seiner seelischen oder körperlichen Entwicklung abzuwehren. Das Gericht hat sowohl die betroffenen Grundrechtspositionen des Elternteils als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger zu berücksichtigen. Hierbei ist in den Blick zu nehmen, dass das Kind mit der Kundgabe seines Willens von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch macht und seinem Willen mit zunehmenden Alter vermehrt Bedeutung zukommt. Ein gegen den ernsthaften Widerstand des Kindes erzwungener Umgang kann durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit unter Umständen mehr Schaden verursachen als nutzen (vgl. BVerfG, FamRZ 2015, 1093 ff. Rn. 17).

Diese Grundsätze sind bei der Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften zu beachten. Nach § 1684 Abs. 4 BGB kann das Gericht das Umgangsrecht oder den Vollzug früherer Entscheidungen über das Umgangsrecht einschränken oder ausschließen, soweit dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Eine Entscheidung, die das Umgangsrecht oder seinen Vollzug für längere Zeit oder auf Dauer ausschließt, darf nur ergehen, wenn andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre.

2.

Der Senat gelangt wie das Amtsgericht zu der Überzeugung, dass die Voraussetzungen für einen Umgangsausschluss vorliegen. Umgangskontakte des Antragsgegners mit N. würden das Kindeswohl gefährden.

a) N. hat sich, wie sich aus den Gerichtsakten ergibt, inzwischen mehrfach gegen Umgänge mit seinem Vater ausgesprochen, etwa am 10.07.2023 gegenüber dem Sachverständigen, im Vorfeld des Gerichtstermins vom 30.10.2023 gegenüber dem Jugendamt, am 30.10.2023 gegenüber der Amtsrichterin sowie zuletzt am 04.06.2024 gegenüber dem Senat in Anwesenheit von Frau L. und des Sachverständigen.

N.s Äußerung vom 08.05.2023, wonach er sich Umgangskontakte mit dem Vater vorstellen könne, sowie frühere, Umgangskontakte befürwortende oder jedenfalls nicht direkt ablehnende Äußerungen sind überholt und geben nicht mehr seine aktuelle Meinung wieder.

Die zuletzt festzustellenden ablehnenden Äußerungen waren jeweils klar und eindeutig. Sie müssen als stabil und verfestigt angesehen werden. N. hat seine Willensäußerung, die auch er selbst als Willensänderung versteht, mit seinen Erfahrungen bei dem Zusammentreffen mit dem Vater in Anwesenheit des Sachverständigen, das er als unangenehm empfunden hat, mit dem früheren Verhalten des Vaters, der an ihm „gezogen“ und teilweise schlecht über die Mutter geredet habe, sowie zuletzt auch mit seiner Befürchtung, dass im Fall der Wiederaufnahme von Umgangskontakten die früheren erheblichen Konflikte insbesondere zwischen seinen Eltern wieder aufbrechen, die aus seiner Sicht das Gefüge seiner Familie, in der er jetzt lebt, destabilisieren und gefährden könnte, was er als bedrohlich empfindet, begründet.

Der Sachverständige Prof. Dr. … hat am 04.06.2024 gegenüber dem Senat hierzu erklärt:

Der Grund, dass Umgänge dann auf einmal doch verweigert werden, hat selten mit persönlichen Erfahrungen während des Umgangs aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten des Elternteils zu tun. Es ist eher so, dass die Erfahrungen von Jugendlichen in die Einsicht münden, dass mit der Besuchspraxis eine Büchse aufgemacht wird, mit der bedrohliche Konflikte aufbrechen können, dass man dann mitschuldig wird an dem neu aufgebrochenen Konflikt. Er hat ja wörtlich gesagt, „alles ist gerade so perfekt“. Er hat offenbar Angst, dass es im Falle eines Umgangs mit dem Vater damit ein Ende hat. Zu dieser Einsicht gehört eine Reife. Als Kind hat er mit gewisser Naivität sich darüber hinweggesetzt. Im jetzigen Alter befürchtet er, dass sich eine Lawine in Gang setzen könnte mit einem neu aufgebrochenen Konflikt zwischen den Eltern bzw. auch mit dem Stiefvater. Er begreift jetzt, dass er der Trigger einer neuen toxischen Entwicklung sein könnte. Dieser Aha-Moment ist es, den ich als verantwortlich für seine jetzige Haltung sehe.

Bereits früher, in seinem ergänzenden Gutachten vom 10.07.2023 (S. 5), hat der Sachverständige ausgeführt, dass der Wunsch des Kindes „im eigenen Erleben und in authentischen Abwägungen des Kindes begründet“ sei, in seiner allmählichen Entstehung nachvollzogen werden könne und nicht ignoriert werden dürfe.

N. hat gegenüber dem Senat erklärt, dass ihm seine Mutter freigestellt habe, ob er Umgänge mit seinem Vater wahrnehmen wolle oder nicht, aber er hat auch zum Ausdruck gebracht, dass die Mutter sich Sorgen um ihn mache und befürchte, dass es ihm in diesem Fall wieder schlechter gehen würde.

Es kann letztlich offen bleiben, ob und ggf. in welchem Maße sich die Haltung der Mutter auf die Willensbildung des Sohnes ausgewirkt hat. Auch wenn die Mutter Einfluss auf die Willensbildung von N. gehabt haben sollte, ist doch sein Wille unter Berücksichtigung seines Alters von nunmehr 13 Jahren zu beachten, zumal er auch Ausdruck der Bindungen des Jungen zu seiner Mutter und der Selbstbestimmung von N. ist (zu diesen Gesichtspunkten vgl. BVerfG, FamRZ 2016, 1917 ff. Rn. 20). N. hat die Ablehnung von Kontakten zum Vater nunmehr zu seiner eigenen Sache gemacht. Dies wird der Vater zur Kenntnis nehmen müssen.

Wie der Sachverständige, dessen Ausführungen überzeugend und gut nachvollziehbar sind, gelangt auch der Senat zu der Einschätzung, dass der jeglichen Umgängen entgegenstehende Wille des Jungen, der inzwischen das 13. Lebensjahr vollendet hat, zu respektieren ist.

Die von ihm genannten Gründe, die sich zu wesentlichen Teilen in den Anhörungen von N. mehrfach wiederfinden, sind aus Sicht des Senats gut nachvollziehbar und verständlich.

N. nimmt unter ärztlicher Begleitung laufend mehrere Medikamente ein, um den Tag über ruhiger zu sein, wobei er beachtliche Nebenwirkungen in Kauf nehmen muss. Angesichts dessen und angesichts früherer Verhaltensauffälligkeiten des Jungen spricht der Sachverständige von einer psychischen Vulnerabilität. N. selbst hat gegenüber dem Senat erklärt, dass er in Anwesenheit seines Vaters aggressiver werde. Angesichts dieser Umstände ist es besonders gut nachvollziehbar, wenn N., ausgehend von seiner derzeit guten Verfassung, durch Kontakte mit dem Vater und sich absehbar daraus entwickelnde Konflikte ein Zurückfallen in den früheren Zustand befürchtet und dass er dies unbedingt vermeiden möchte.

Der Sachverständige hat hierzu im Termin vor dem Senat ausgeführt:

Die Medikation, die N. bekommt, ist keine übliche, keine weithin praktizierte Methode. Sie dokumentiert letztlich, dass er ohne diese Medikation erheblich verhaltensauffällig wäre, andernfalls würde diese Behandlung so nicht angelegt werden. Dass er eine beträchtliche Dosis von Stimulanzien erhält, ist nur erklärbar bei erheblichen Auffälligkeiten, denn hier werden ja auch Nebenwirkungen in Kauf genommen, z. B. die Wachstumsstörung, die Appetitlosigkeit und die Schlafstörungen. Die Kombinationsbehandlung mit Neurexan macht man nur bei erheblichen Verhaltensstörungen. Die Behandlung hat Erfolg, aber sie muss eben in Abwägung zu den Nebenwirkungen erfolgen.

Die nicht enden wollende Kritik des Vaters an der Kindesmutter, bei der N. sich ersichtlich wohlfühlt („Es ist jetzt perfekt so wie es ist, und so soll es bleiben“), und durch die der Vater den Loyalitätskonflikt, in dem sich der Junge befindet, verstärkt, ist ein weiterer Gesichtspunkt, der die Ablehnungshaltung aus Sicht des Senats als nachvollziehbar erscheinen lässt. Dasselbe gilt von dem Umstand, dass der Vater, der frühere Umgangswünsche von N. noch als eigenständig angesehen hat, dem Jungen nun, nachdem dessen Äußerungen in der Sache dem Verfahrensziel des Vaters zuwiderlaufen, die Eigenständigkeit seiner Willensbildung abspricht.

Der Senat ist insbesondere aufgrund des in der Anhörung des Kindes gewonnenen Eindrucks davon überzeugt, dass N. schon eine Anordnung von Umgangskontakten, aber erst recht deren mögliche Durchsetzung, als Missachtung seiner eigenen Persönlichkeit wahrnehmen würde. Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt:

Wenn man N. jetzt zum Umgang mit dem Vater zwingen würde, würde man die kindliche Würde verletzen und nicht anerkennen, dass N. sich zu seiner jetzigen Position mit einer geänderten Meinung durchgerungen hat. Eine Auseinandersetzung des Kindes mit der Situation, die ihm sehr klar ist, ist zu achten.

Weiter hat er erklärt:

N. hat ja eine erhebliche Vulnerabilität für Affektdurchbrüche, affektive Regulationen sind schwierig für ihn, ein Zwang würde tatsächlich seine Fähigkeiten, sich sozial zu integrieren, erheblich beeinträchtigen. Es wäre zunehmend schwierig, ihn zu führen, Entgleisungen in alle Richtungen wären zu befürchten. Er fängt ja gerade an, über sich nachzudenken. Er würde prognostisch den Glauben daran verlieren, dass es darauf ankommt, was er denkt. Er wäre dann wohl oppositionell mit der Brechstange unterwegs in Bezug auf seine soziale Integration. Sein Vertrauen in die soziale Umwelt und deren Gestaltbarkeit würde aufhören und er würde zu resignativem aggressiven Verhalten neigen.

Diese Ausführungen des Sachverständigen sind gut nachvollziehbar. Der Senat schließt sich ihnen an.

Bereits die Anordnung von Umgangskontakten mit dem Vater, gleich welcher Art, würde N. in Angst versetzen und massiv belasten. Sein labiles gesundheitliches Gleichgewicht wäre in Gefahr. Seine Besorgnisse sind, wie der Sachverständige zum Ausdruck gebracht hat, auch nicht unbegründet. Diese Einschätzung des Sachverständigen teilt der Senat, da sich weder an der Zögerlichkeit und an den Befürchtungen der Mutter hinsichtlich der Auswirkungen von Umgängen auf den Jungen, noch an den vom Sachverständigen als „Problemverhalten“ bezeichneten Verhaltensweisen des Vaters etwas Grundlegendes geändert hat, weshalb das Auftreten von Konflikten aus dem geringsten Anlass in der Tat in hohem Maße wahrscheinlich ist.

Die Erhöhung des Drucks auf N., die bereits mit der Anordnung von Umgängen verbunden wäre, zumal damit auch die Möglichkeit einer zwangsweisen Durchsetzung eröffnet würde, würde nach Einschätzung des Senats die ablehnende Haltung des Jungen weiter verstärken und seine seelische Entwicklung beeinträchtigen. Dies stellt eine konkrete und erhebliche Gefährdung des Kindeswohls dar (vgl. BVerfG, FamRZ 2016, 1917 ff. Rn. 26, 31; BVerfG, FamRZ 2015, 1093 ff. Rn. 17, 21).

b) Die vom Amtsgericht angesetzte Dauer des Ausschlusses des Umgangs (bis 12.03.2025) ist unter Kindeswohlgesichtspunkten inzwischen nicht mehr ausreichend. Die ursprüngliche Empfehlung des Sachverständigen, auf der die Entscheidung des Amtsgerichts beruht, wurde im Juli 2023 abgegeben. Seitdem ist nahezu ein Jahr verstrichen. N. hat auf Frage des Senats erklärt, dass Umgänge für „5 Jahre“ ausgesetzt werden sollten. Der Sachverständige hat sich bei seiner Anhörung durch den Senat, nachdem er auf die inzwischen vorangeschrittene Reifung des Jungen hingewiesen hat, die aber noch nicht abgeschlossen sei, dafür ausgesprochen, Umgänge für weitere 2 Jahre, „gerechnet von jetzt an“, auszuschließen.

Dieser Bewertung und Empfehlung schließt sich der Senat an. Diese Dauer ist erforderlich, um das Kind vor weiteren Belastungen zu schützen. Bei der Anhörung ist auch deutlich geworden, dass N. durch das anhängige Verfahren und insbesondere durch die Notwendigkeit, immer wieder gegenüber verschieden Stellen und Personen, auch vor Gericht, ggf. auch mehrfach, seine Haltung erklären und diese gegen Versuche, einen Kontakt doch irgendwie zustande zu bringen, „verteidigen“ zu müssen in Kenntnis des Umstandes, dass seine Äußerungen den Vater schmerzen, belastet wird. Angesichts des nun klar geäußerten Willens des Jungen kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich seine Haltung zu Umgangskontakten mit dem Vater vor Erreichen des nunmehr neu festgesetzten Befristungszeitpunkts ändern wird. In kürzerer Zeit ein erneutes gerichtliches Umgangsverfahren zu ermöglichen, das absehbar zu keiner positiven Veränderung, sondern allenfalls zu einer von Trotz geprägten Reaktion und zu einer Intensivierung der ablehnenden Haltung von N. führen würde, ist unter den hier im Vordergrund stehenden Kindeswohlgesichtspunkten nicht zu rechtfertigen.

Das Umgangsverfahren ist in erster Linie am Kindeswohl und an der Abwehr von Gefährdungen für das Kind ausgerichtet. Es ist daher allgemein anerkannt, dass das Verschlechterungsverbot, also das Verbot, die angefochtene Entscheidung zum Nachteil des Beschwerdeführers zu ändern, in Umgangsverfahren wie dem vorliegenden keine Anwendung findet (vgl. OLG Koblenz, NZFam 2023, 261 ff.; OLG Brandenburg, B. v. 31.08.2020 – 15 UF 40/18, juris; Staudinger/Dürbeck, BGB-Kom., Bearb. 2023, § 1684 Rn. 297 sowie Rn. 505, jeweils m.w.N.). Hierauf hat der Senat im Termin vom 04.06.2024 hingewiesen.

c) Ein vollständiger Ausschluss des Umgangs des Vaters mit N. für den genannten Zeitraum entspricht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Der Umgangsausschluss wurde zeitlich befristet. Mildere, vergleichbar wirksame Mittel zur Abwehr der Kindeswohlgefährdung stehen nicht zur Verfügung.

Insbesondere wären begleitete Umgangskontakte nicht geeignet, die Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden, da sie zu einem persönlichen Zusammentreffen von N. mit dem Vater führen würden, was N. klar ablehnt. Auch die Bestellung eines Umgangspflegers kommt aus demselben Grund nicht in Betracht und könnte die mit der Anordnung und Durchführung von Umgängen verbundene Kindeswohlgefährdung nicht beseitigen.

Der Sachverständige Prof. Dr. … hat im Termin vom 04.06.2024 hierzu ausgeführt:

Momentan sehe ich keinen Umgangspfleger, der die von N. befürchtete Brisanz der Umgänge entschärfen könnte. Die Angst von N. ist ja, dass die Büchse aufgeht und wieder eine bedrohliche Situation da ist. Die Anwesenheit eines Umgangspflegers würde dies weder subjektiv noch objektiv beheben. Subjektiv nicht, weil es N. nicht beruhigen würde und objektiv nicht, weil ich weiß, was Herr Endres von Personen hält, die ihm vorschreiben, wie Umgänge zu funktionieren haben. Ich würde hier die Gefahr sehen, dass N. Zeuge von Auseinandersetzungen zwischen dem Umgangspfleger und seinem Vater werden würde. Das würde den beschriebenen Knoten nicht lösen. Es geht hier um die Identitätsentwicklung des Jungen.

Diese Schlussfolgerung, die in der Sache auch für begleitete Umgänge gilt, ist für den Senat ohne Weiteres nachvollziehbar. Briefliche oder telefonische Kontakte mit dem Vater hat N. bereits in seiner Anhörung vor dem Amtsgericht klar abgelehnt. Hieran hat sich nichts geändert, wie bei der Anhörung durch den Senat deutlich geworden ist. Auch in diesem Fall würden insbesondere die ernst zu nehmenden und ihn belastenden Befürchtungen des Jungen hinsichtlich des Wiederauftretens und der Verschärfung von Konflikten in seinem Umfeld eingreifen.

Der Senat legt Wert auf den Hinweis, dass es im vorliegenden Verfahren nicht an Versuchen gefehlt hat, N. zur Wahrnehmung von Kontakten mit dem Vater zu motivierten. Insbesondere hat sich der gerichtliche Sachverständige, der das Verhalten beider Elternteile gleichermaßen kritisch bewertet und Umgängen mit dem Vater anfangs durchaus positiv gegenüberstand, mit großer Geduld um ein Zusammentreffen zwischen Vater und Sohn bemüht und in der gebotenen Weise auf N. mit dem Ziel einer Wiederaufnahme von Kontakten eingewirkt. Dass diese Bemühungen letztlich keinen Erfolg hatten, beruht auf der Haltung des Jungen selbst, die, wie oben ausgeführt, gefestigt ist und hingenommen werden muss.

d) Frau L. als Verfahrensbeistand und die Vertreterin des Jugendamts haben sich im Termin vor dem Senat den Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen. Auch ihre schriftlichen Stellungnahmen stützen in der Sache die Einschätzung des Senats.

e) Die Ausführungen des Antragsgegners zu verfassungsrechtlichen Fragen geben noch Anlass zu dem Hinweis, dass das BVerfG bereits mehrfach in vergleichbaren Fällen einen Umgangsausschluss unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten unbeanstandet gelassen hat (vgl. etwa BVerfG, FamRZ 2016, 1917 ff.; BVerfG, FamRZ 2015, 1093 ff.; BVerfG, FamRZ 2013, 361 ff. sowie BVerfG, FamRZ 2023, 438 ff.).

III.

Der Senat hat angesichts der Vorgaben des § 68 Abs. 5 Nr. 2 FamFG trotz der eindeutigen Sach- und Rechtslage, die für sich genommen eine Entscheidung ohne mündliche Erörterung ermöglicht hätte (vgl. hierzu etwa BVerfG, FamRZ 2016, 1917 ff., Rn. 47), N. nochmals persönlich angehört, die Angelegenheit mit den Beteiligten in einem Termin erörtert und in diesem Termin auch nochmals eine Beurteilung der entscheidungserheblichen Fragen durch den Sachverständigen eingeholt.

IV.

Die Kostenentscheidung des angefochtenen Beschlusses ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens ergeht nach § 84 FamFG. Es besteht im vorliegenden Fall kein Anlass von dem Grundsatz („soll“) abzuweichen, dass der Beteiligte die Kosten eines ohne Erfolg bleibenden Rechtsmittels trägt, der es eingelegt hat. Die Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg, da sich der Antragsgegner gegen die Aussetzung des Umgangs wendet, als Ergebnis des Beschwerdeverfahrens jedoch der Zeitraum der Aussetzung noch zu verlängern war.

V.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 70 Abs. 2 FamFG) liegen nicht vor.

VI.

Das Verfahrenskostenhilfegesuch des Antragsgegners für das Beschwerdeverfahren ist zurückzuweisen, da die Rechtsverfolgung, wie ausgeführt, keine Aussicht auf Erfolg hat. Der Antragsgegner hat das Verfahrenskostenhilfegesuch erst eingereicht, nachdem die ergänzende Anhörung des Sachverständigen durch den Senat beendet war und alle Beteiligten Stellung genommen hatten. Der Ausgang des Verfahrens war bei Einreichung des Gesuchs klar absehbar.

OLG Stuttgart, Beschluss vom 14.06.2024
17 UF 227/23

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