OLG Stuttgart: Bestimmung des Aufenthaltsbestimmungsrechts über minderjährige Kinder nach widerrechtlichem Umzug

OLG Stuttgart: Bestimmung des Aufenthaltsbestimmungsrechts über minderjährige Kinder nach widerrechtlichem Umzug

1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Göppingen vom 14.11.2022 wird zurückgewiesen.

2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Beschwerdewert: 2.000 €

Gründe

I.

Der Antragsteller (zukünftig Kindesvater), türkischer Staatsangehöriger, und die Antragsgegnerin (zukünftig Kindesmutter), gleichfalls türkische Staatsangehörige, streiten um das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre beiden Kinder L…, geboren 2018 und M.., geboren 2021.

Die beteiligten Eltern haben 2015 in Istanbul/Türkei die Ehe geschlossen. L… wurde in der Türkei geboren. Im Jahr 2019 sind die Eltern zunächst nach … gezogen. In … wurde M… geboren. Im Herbst 2021 sind die Eltern mit den Kindern nach … gezogen. Der Kindesvater ist als System-Ingenieur bei dem … beschäftigt und nach seinen Angaben in seiner Zeiteinteilung völlig frei. Die Kindesmutter ist seit der Geburt der Kinder nicht mehr erwerbstätig. L… besuchte den Kindergarten in …, M… wird noch gestillt. Nach einem Streit zwischen den Kindeseltern ist die Kindesmutter mit beiden Kindern am … 2022 aus der gemeinsamen Ehewohnung ausgezogen. Die Kindesmutter lebt mit den Kindern seit dem Auszug an einem unbekannten Ort in einem Frauenhaus im Norden Deutschlands. Eine Zustimmung des Kindesvaters liegt nicht vor.

Der Kindesvater, der vorgetragen hat, die Kindesmutter habe dem Kindesvater am …2022 das Handy entwendet, weshalb er seine Online-Bankgeschäfte nicht habe erledigen können, weshalb es auch zu einer lautstarken Auseinandersetzung gekommen sei, beantragte Mitte Oktober 2022 beim Amtsgericht Göppingen den Erlass einer einstweiligen Anordnung, wonach die Kindesmutter die beiden Kindern an den Kindesvater herauszugeben habe und wieder Aufenthalt in der vormaligen Ehewohnung nehmen solle. Durch die eigenmächtige Verlagerung des Aufenthalts liege eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung vor, weil gerade L… ihre bisherigen sozialen Kontakte verloren habe. Auch werde in höchst missbräuchlicher Art und Weise jeglicher Kontakt zum Kindesvater unterlassen. Im Verhandlungstermin am …2022 hat der Kindesvater die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf sich beantragt. Gegenüber dem Verfahrensbeistand hat der Kindesvater berichtet, seine Beziehung zu L… sei sehr intensiv. Teilweise habe er sich auch nachts um L… gekümmert. In der Regel habe er L… zu Bett gebracht, während sich die Kindesmutter um M… gekümmert habe. Mit L… habe er einfaches Deutsch gesprochen. Die Beziehung zu M… sei nicht so eng. In der mündlichen Verhandlung hat der Kindesvater angegeben, er habe auch M… die Windeln gewechselt. Seine Arbeit erlaube es ihm, dass er auch M… betreuen könne.

Die Kindesmutter hat ihrerseits beantragt, das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf sie zu übertragen. Beim Kindesvater gebe es sowohl für sie als auch für ihre Kinder keine Sicherheit für Leib und Leben. Der Kindsvater habe sie schon mehrfach mit dem Tod bedroht. Eine Trennung komme für den Kindsvater nicht in Frage und er habe ihr mit der Wegnahme von L… und deren Verbringung in die Türkei gedroht, zumal er den Reisepass für L… in seinem Besitz habe. Das Leben der Kinder und ihres selbst sei von Wutausbrüchen und dem impulsiven Verhalten des Kindsvaters geprägt gewesen. Der Kindesvater habe sie kontrolliert und überwacht, indem er Kameras in der Wohnung installiert und Handys versteckt habe, um sie abzuhören, während er arbeiten gewesen sei. Am … 2022 habe der Kindesvater ihr gegenüber geäußert, dass er sie abhören würde, weil er ihr nicht vertraue. Er habe sie nach dem Verbleib des Handys gefragt. Als sie dem Kindesvater mitgeteilt habe, dass sie über den Verbleib des Handys nicht wisse, habe der Kindesvater angefangen zu schreien, sie mit dem Tode bedroht, sie geschüttelt und als „Hure“ beleidigt. Als Hauptbetreuungsperson für die Kinder sei der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu übertragen.

Der Kindesvater stellt eine Bedrohung und Überwachung der Kindesmutter in Abrede. Die Kindesmutter sei vollkommen bindungsintolerant, sein Angebot, ihr die Ehewohnung zur alleinigen Nutzung zu überlassen und sich von der Wohnung fernzuhalten, habe die Kindesmutter grundlos abgelehnt.

Das Jugendamt Göppingen hat in der mündlichen Verhandlung am … 2022 ausgeführt, die Beziehung M… zur Mutter solle nicht unterbunden werden, da M… noch gestillt werde. Dadurch dass die Mutter nach … geflohen sei, habe sie auch dem Kindeswohl entsprochen, weil sie ihre Töchter habe schützen wollen.

Letztlich aufgrund der Geschwisterbindung hat der Verfahrensbeistand einen Verbleib bei der Kindesmutter befürwortet.

Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Amtsgericht der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für beide Kinder übertragen. Der von der Kindesmutter herbeigeführte Ortswechsel beeinträchtige nicht das Kindeswohl. Der Wegzug der Kindesmutter sei vor dem Hintergrund der von ihr geschilderten Bedrohungslage nachvollziehbar. Eine Einschränkung der Erziehungsfähigkeit sei nicht erkennbar, nachdem sich die Kindesmutter im Verhandlungstermin einverstanden erklärt habe, in die Nähe des Kindesvaters in ein Frauenhaus umzuziehen, um die Umgangskontakte zu erleichtern. Weiterhin sei davon auszugehen, dass die Kindesmutter die Hauptbezugsperson für M… sei. Insoweit sei die Beziehungskontinuität maßgeblich. Dass L…, die in der Vergangenheit aufgrund der vollschichtigen Berufstätigkeit des Kindesvaters ohnehin hauptsächlich von der Kindesmutter betreut worden sei, eine stärkere Bindung zum Kindesvater habe, sei nicht erkennbar, weshalb auch eine Geschwistertrennung nicht in Betracht komme. Überdies sei aufgrund des Alters von L… die persönliche Betreuung gewichtiger als die Kontinuität des Lebensumfelds. Da sich die Kindesmutter auch für Umgangskontakte mit dem Kindesvater offen gezeigt habe, könne, auch unter Berücksichtigung einer weiteren finanziellen Belastung des Kindesvaters, durch eine angemessene Umgangsregelung einer Entfremdung der Kinder vom Vater Rechnung getragen werden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen (Bl. 122/134 E-Akte Amtsgericht Göppingen).

Mit seiner am … 2022 beim Amtsgericht Göppingen eingegangenen Beschwerde gegen den ihm am … 2022 zugestellten Beschluss begehrt der Kindesvater nach wie vor das Aufenthaltsbestimmungsrecht für beide Kinder. Der Kindesvater könne sich auch angesichts seiner freien Zeiteinteilung und des Aufenthalts der Kinder in einer Betreuungseinrichtung um beide Kinder kümmern. Zwar habe sich die Mutter mit den Kindern zeitlich deutlich mehr befasst als der Vater. Allerdings hätten beide Kinder eine völlig spannungsfreie und problemlose Bindung zum Kindesvater, wobei insbesondere zur älteren Tochter L… eine sehr intensive und starke Beziehung zum Kindesvater gegeben sei. Die Entwicklung von L… sei abrupt abgestoppt worden, da die Kindesmutter nicht in der Lage sei, L… in irgendeiner Art und Weise zu fördern. Die Kindesmutter sei schon aufgrund der stattgefundenen Kindesentführung vollständig bindungsintolerant. Umgangskontakte zum Kindesvater seien nicht ermöglicht worden. Weshalb sich die Kindesmutter in der zur alleinigen Überlassung angebotenen Ehewohnung trotz nicht erfolgter Tätlichkeiten des Kindesvaters nicht sicher fühle, könne nicht nachvollzogen werden. Ein familiäres Umfeld hätten die Kinder in dem Frauenhaus sicherlich nicht. Fahrten nach … zur Ausübung des Umgangs könne sich der Kindesvater angesichts der angespannten finanziellen Verhältnisse nicht leisten.

Die Kindesmutter verteidigt die angefochtene Entscheidung. Die Kindesmutter sei die Hauptbezugsperson für die gemeinsamen Kinder. Bis zur Trennung der beteiligten Eltern habe sie die Kinder überwiegend betreut, während der Kindesvater seiner Vollzeitbeschäftigung nachgegangen sei. Der Kindesvater habe auch selber deutlich gemacht, dass er eher eine Bindung zu der Tochter L… habe und der Schwerpunkt auf deren Betreuung und Erziehung gerichtet gewesen sei. Die Kindesmutter habe die Interessen beider Kinder im Blick. Das Gericht habe keine rechtliche Möglichkeit, die Handlungsfreiheit der Kindesmutter einzuschränken oder den Umzug zu untersagen. Auch wenn durch den Umzug der Umgang zwischen dem Kind und einen Elternteil erschwert werde, ergebe sich daraus allein weder eine generelle noch eine vermutete Kindeswohlschädlichkeit. Angesichts der Tatsache, dass der Kindesvater den Pass von L… in seinen Besitz genommen habe, bestünden eher Zweifel an der Bindungstoleranz des Kindesvaters. Die Kindesmutter habe gegenüber dem zuständigen Jugendamtsmitarbeiter mitgeteilt, dass sie einen begleiteten Umgang befürworte. Etwaige Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den jeweiligen Jugendämtern könnten nicht zu ihren Lasten gehen.

Das Jugendamt N… hat mitgeteilt, dass die aktuelle Wohn- und Lebenssituation der Kindesmutter an den Bedürfnissen der Kinder entsprechend eingerichtet und ordentlich sei. Beide Mädchen seien in verschiedenen pädagogischen Angeboten gut versorgt. Die Kindsmutter versorge ihre Kinder und erledige die Anforderungen des täglichen Lebens selbständig. Die U-Untersuchungs- und Impfhefte beider Kinder seien auf dem aktuellen Stand und beide Kinder an die kinderärztliche Nahversorgung der Familie angebunden. Der Kinderarzt attestiere eine altersgemäße Entwicklung in allen Bereichen. Die Kindesmutter beziehe ab Februar 2023 eine neue Wohnung. L… habe ab März, M… ab Mai einen Kita-Platz. Darüber hinaus wolle die Kindsmutter einen Deutschkurs, zur Erlangung des B1 Zertifikats, absolvieren. Während der Wohnungsführung und des Gesprächs habe die Kindesmutter stets einen kindgerechten und liebevollen Kontakt und Umgang mit den Kindern gepflegt. Hinsichtlich des Umgangs zwischen dem Kindesvater und den Kindern habe die Kindesmutter ausdrücklich betont, dass sie einen Umgang zwischen den Mädchen und dem Kindsvater begrüße, jedoch nur in einem sicheren Setting.

Der Verfahrensbeistand hat berichtet, dass eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den Kindesvater zur Folge hätte, dass die beiden Kinder die Kindesmutter als Hauptbezugsperson verlieren würden. Dies würde insbesondere bei M… zu einer erheblichen Belastungsreaktion führen. Ein derart schwerer Eingriff in das bisherige Bindungserleben von M… sei im Rahmen einer vorläufigen Entscheidung nicht zu verantworten. Durch einen Verbleib von L… beim Kindesvater wäre es für L… möglich, in ihrem gewohnten Umfeld und den bekannten Strukturen zu verbleiben. Allerdings würde der Verlust der Kindesmutter als Hauptbezugsperson und auch von M… zu einer Belastungsreaktion führen, welche in ihrem Ausmaß und ihrer Intensität derzeit nicht abgeschätzt werden könne, weshalb L… bei der Kindesmutter verbleiben sollte. Nicht vollständig aufklären lasse sich derzeit die Bindungstoleranz der Kindesmutter.Die Kindesmutter habe sich nach ihren glaubhaften Schilderungen wegen des Umgangs an das Jugendamt gewandt. Grundsätzlich sei die Kindesmutter auch bereit, ein Videotelefonat zwischen dem Kindesvater und L… zu ermöglichen. Ein persönliches Treffen halte sie allerdings für sinnvoller. Es könne derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Kindesmutter dem Kindesvater die Kinder aktiv entfremden möchte, weshalb auch vor diesem Hintergrund eine Trennung der Kinder von der Kindesmutter als Hauptbezugsperson nicht angezeigt sei.

II.

Die nach §§ 57 Satz 2 Nr. 1, 58 ff. FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Kindesvaters hat in der Sache keinen Erfolg. Im Ergebnis zu Recht hat das Amtsgericht der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die beiden Kinder L… und M… übertragen.

1.

Die in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ergibt sich aus Art. 7 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2019/1111 (Brüssel IIb-VO), da die betroffenen Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.

2.

a.

Gemäß § 49 Abs. 1 FamFG kann das Gericht durch einstweilige Anordnung eine vorläufige Maßnahme treffen, soweit dies nach den für das Rechtsverhältnis maßgebenden Vorschriften gerechtfertigt ist (Anordnungsanspruch) und ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht (Anordnungsgrund).

Ein Anordnungsgrund besteht vorliegend ausnahmsweise.

Ein Regelungsbedürfnis ist nur gegeben, wenn ein dringendes Bedürfnis für ein alsbaldiges Einschreiten besteht, das ein Abwarten bis zur endgültigen Entscheidung nicht gestattet (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 14.09.1999 – 15 WF 347/99, OLGR Stuttgart 2000, 72). Ob ein dringendes Bedürfnis anzunehmen ist, ist immer eine Frage des Einzelfalls. Es besteht regelmäßig, wenn ein Zuwarten bis zur Entscheidung in einer etwaigen Hauptsache nicht möglich ist, weil diese zu spät käme, um die zu schützenden Interessen zu wahren (Zöller/Feskorn, ZPO, 34. Aufl., § 49 FamFG Rn. 8). In Umgangs- und Sorgerechtsverfahren besteht allerdings wegen des Vorrang- und Beschleunigungsgebotes des § 155 FamFG nur noch in Ausnahmefällen ein Bedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Angesichts des Begehrens des Kindesvaters nach einer schnellstmöglichen Regelung aufgrund des Wegzugs der Kindesmutter und des Vortrags des Kindesvaters, die Kindesentführung durch die Kindesmutter sei wieder rückgängig zu machen, besteht ausnahmsweise ein Regelungsbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

b.

Es besteht auch ein Anordnungsanspruch.

aa.

Das anzuwendende Recht bestimmt sich nach dem Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19.10.1996 (im Folgenden: KSÜ). Wenn die Zuständigkeit eines Vertragsstaates begründet ist, wendet dieser nach Art. 15 KSÜ sein eigenes Recht an, wobei unerheblich ist, ob die betroffenen Kinder Angehörige eines Vertragsstaates oder eines Drittstaates sind. Vorliegend kommt daher deutsches Recht zur Anwendung.

Bei der Übertragung der elterlichen Sorge oder eines Teils der elterlichen Sorge ist zunächst als Vorfrage zu klären, ob den Eltern die gemeinsame Sorge für die Kinder zusteht. Das richtet sich für jedes Kind zunächst nach seinem gewöhnlichen Aufenthalt. L… wurde in der Türkei geboren. Nach türkischem Recht steht den Eltern die gemeinsame Sorge aufgrund gesetzlicher Anordnung zu (Art. 336 Abs. 1 türkZGB v. 22.11.2001). Auf die – ohnehin gegebenen – Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 4 KSÜ kommt es daher nicht an.

bb.

Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes geht es nur um eine vorläufige Regelung. Es ist deshalb zu prüfen, welche der von den beiden Seiten beantragten Regelungen hinsichtlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts bis zum voraussichtlichen Ende eines, soweit ersichtlich, noch nicht anhängig gemachten, aber für beide Elternteile möglichen Hauptsacheverfahrens dem Wohl der Kinder am besten entspricht (§ 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB).

(1) Zu beachten ist auch, dass die durch eine vorläufige Entscheidung dem einen oder anderen Elternteil eingeräumte Möglichkeit zur Wahrnehmung der Elternverantwortung unter dem Aspekt der dann fortbestehenden Kontinuität faktisch die endgültige Sorgerechtsregelung beeinflussen kann. Eine den Grundrechten der beiden Elternteile und des Kindes gerecht werdende Entscheidung kann jedoch nur aufgrund einer – im Verfahren der einstweiligen Anordnung allein gebotenen – summarischen Prüfung der Umstände des Einzelfalls erfolgen.

(2) Im Hinblick auf das vom Kindesvater behauptete Fehlverhalten der Kindesmutter im Zusammenhang mit dem Verbringen der Kinder nach Norddeutschland ab dem … 2022 („Kindesentführung“) und die vom Kindesvater daraus abgeleiteten Auswirkungen auf die zu treffende Entscheidung ist klarzustellen, dass die gebotene Abwägung nicht an einer Sanktion eines – im vorliegenden Fall möglichen – Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist (BVerfG FamRZ 2009, 189). Eine eigenmächtige Trennung des Kindes vom anderen Elternteil kann daher nicht als solche, sondern nur insoweit Berücksichtigung finden, als sie Rückschlüsse auf eine konkrete Einschränkung der Erziehungsfähigkeit des betroffenen Elternteils zulässt und diese Einschränkung für eine am Einzelfall orientierte Prüfung des Kindeswohls allein ausschlaggebend ist oder konkret festgestellt werden kann, dass der herbeigeführte Ortswechsel aktuell das Wohl der Kinder beeinträchtigt (OLG Nürnberg, Beschluss vom 22. Mai 2013 – 7 UF 641/13 -, Rn. 69-71, juris).

(3) Bei einer nur vorläufigen Regelung sind im Übrigen auch die Folgen zu berücksichtigen, die für die Kinder für den Fall einer von der vorläufigen Regelung abweichenden Hauptsacheregelung eintreten würden (BVerfG FamRZ 2009, 676).

Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, welche Folgen mit einer vorläufigen Entscheidung zu Gunsten des Kindesvaters für den Fall einer abweichenden Hauptsacheentscheidung zu Gunsten der Kindesmutter mit einem zweimaligen, die Kinder erheblich belastenden, Wechsel der Umgebung und der Hauptbezugsperson für die Kinder verbunden wäre, während im Fall einer zu Ungunsten des Kindesvaters getroffenen Entscheidung und einer davon abweichenden Hauptsacheentscheidung zu Gunsten des Kindesvaters nur noch ein einmaliger endgültiger Wechsel der Kinder zum Vater erforderlich wäre.

Eine Abwägung der möglichen Risiken für die Kinder spricht im vorliegenden Fall ausnahmsweise auch bei einer sog. „ertrotzten“ Kontinuität für die Aufrechterhaltung der angefochtenen Entscheidung. Denn nach dem Ergebnis der summarischen Prüfung besteht derzeit keine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass unter Kindeswohlgesichtspunkten in der Hauptsache eine Entscheidung zugunsten des Kindesvaters ergehen wird, dieser also das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die gemeinsamen Kinder übertragen erhalten wird.

cc.

Der Kindesmutter ist das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die betroffenen Kinder auf ihren Antrag gemäß § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB zu übertragen, weil die gemeinsam sorgeberechtigten Kindeseltern sich uneinig darüber sind, in wessen Obhut die Kinder künftig leben sollen, und eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Kindesmutter dem Kindeswohl derzeit am besten entspricht.

(1) Zunächst hat eine ggf. widerrechtliche Kindesentführung innerhalb Deutschlands nicht einen automatischen Rückführungsmechanismus zur Konsequenz. Die Vorschriftendes HKÜ sind, da sie nur die Rückführung in den vormaligen Staat des gewöhnlichen Aufenthalts und nicht die Rückführung an denselben Ort bezwecken, auch nicht analog anwendbar (dies verkennen Gutdeutsch/Rieck FamRZ 1998, 1488). Vielmehr hat eine Einzelfallabwägung anhand der sorgerechtlichen Kriterien zu erfolgen.

(2) Gemäß § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB ist dem Antrag eines Elternteils auf Übertragung der elterlichen Sorge oder eines Teils der elterlichen Sorge stattzugeben, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Nach § 1671 Abs. 4 BGB ist dem Antrag nicht stattzugeben, soweit die elterliche Sorge aufgrund anderer Vorschriften abweichend geregelt werden muss, was insbesondere bei einer Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB der Fall sein kann. Da ein solcher Fall unstreitig nicht vorliegt, ist der vorliegende Konflikt anhand von § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB zu entscheiden. Die Entscheidung ist allein am Kindeswohl auszurichten und hat die Erziehungseignung der Eltern, die Bindungen des Kindes, die Prinzipien der Förderung und der Kontinuität sowie den Kindeswillen zu berücksichtigen. Diese Kriterien stehen aber letztlich nicht wie Tatbestandsmerkmale kumulativ nebeneinander. Vielmehr kann jedes von ihnen im Einzelfall mehr oder weniger bedeutsam für die Beurteilung sein, was dem Wohl des Kindes am besten entspricht (BGH FamRZ 2020, 252 Rn. 16; FamRZ 2016, 1439 Rn. 20; FamRZ 2010, 1060 Rn. 17 ff.).

Zudem sind die durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Elternrechte beider Elternteile zu berücksichtigen. Die Gerichte haben sich dabei um eine Konkordanz der verschiedenen Grundrechte zu bemühen. Ausschlaggebend ist jeweils das Wohl des Kindes (BVerfG FamRZ 2015, 1585). Wenn der betreuende Elternteil den Umzug in einen weiter entfernten Ort beabsichtigt, ist für die Beurteilung des Kindeswohls und die Abwägung der beiderseitigen Elternrechte nicht davon auszugehen, dass er mit dem Kind an seinem bisherigen Wohnort verbleibt, selbst wenn diese Möglichkeit mit dem Kindeswohl am besten zu vereinbaren wäre. Tatsächlicher Ausgangspunkt muss vielmehr sein, dass der Elternteil seinen Umzugswunsch in die Tat umsetzt. Auch wenn der Umzug bereits vollzogen wurde, stellt dies die tatsächliche Ausgangslage für die Beurteilung des Kindeswohls und für die Abwägung der beiderseitigen Elternrechte dar. Die Möglichkeit einer Rückkehr des umgezogenen Elternteils kommt als tatsächliche Alternative ebenso wenig in Betracht wie der Nachzug des anderen Elternteils, selbst wenn ein ständiger Aufenthaltsort der Eltern in räumlicher Nähe zueinander dem Kindeswohl am besten entspräche (OLG Frankfurt, Beschluss vom 4. Januar 2022 – 7 UF 117/21 -, Rn. 28-30, juris).

Einem Umzug des betreuenden Elternteils mit dem Kind steht ferner nicht ohne Weiteres die gesetzliche Regelung in § 1626 Abs. 3 Satz 1 BGB entgegen, wonach zum Wohl des Kindes in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen gehört. Auch wenn durch den Umzug der Umgang zwischen dem Kind und dem nicht betreuenden Elternteil wesentlich erschwert werden sollte, ergibt sich daraus allein weder eine generelle noch eine vermutete Kindeswohlschädlichkeit. Denn bei § 1626 Abs. 3 Satz 1 BGB handelt es sich um die gesetzliche Klarstellung eines einzelnen – wenn auch gewichtigen – Kindeswohlaspekts. Dass dadurch die Bedeutung der Beziehung des Kindes zu beiden Elternteilen unterstrichen wird, verleiht diesem Gesichtspunkt aber noch keinen generellen Vorrang gegenüber anderen Kindeswohlkriterien. Ähnliches gilt für das Wohlverhaltensgebot nach § 1684 Abs. 2 BGB. Auch im Hinblick darauf kommt der Aufrechterhaltung der Beziehungen zum Umgangselternteil nicht notwendig eine Sperrwirkung für solche Ortsveränderungen zu, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Umgangskontakte führen. Das Bedürfnis des Kindes nach einem intensiven Umgang mit beiden Elternteilen ist vielmehr als Element des Kindeswohls im Rahmen der Entscheidung nach § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB zu berücksichtigen und in die zu treffende umfassende Abwägung einzubeziehen. Hierbei sind auch der Umfang der mit dem Umzug verbundenen Beeinträchtigungen und die Folgen für das Kind und den nicht betreuenden Elternteil zu berücksichtigen. Welches Gewicht diesen Umständen für die Entscheidung letztlich zukommt, ist eine Frage des Einzelfalls (BGH FamRZ 2010, 1060 Rn. 23 ff.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 4. Januar 2022 – 7 UF 117/21 -, Rn. 32, juris).

(3) Bei der gebotenen Abwägung im Einzelfall ist nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen hat.

(a) Wäre ausschließlich auf das Kind L… abzustellen, käme unter Berücksichtigung der sozialen Kontinuität des Kindes in B… eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den Vater in Betracht. L… ging bis Mitte September 2022 in B… in den Kindergarten. Aufgrund der vollschichtigen Tätigkeit des Kindesvaters, wenngleich auch nach seinem Vortrag bei möglicher freier Zeiteinteilung, mag zwar die Kindesmutter im Alltag die Hauptbezugsperson gewesen sein. Es lässt sich allerdings bislang nicht feststellen, dass L…, die nach dem Bericht des Verfahrensbeistands zu beiden Elternteilen eine gute Bindung hat, ausschließlich von der Kindesmutter betreut worden ist. Auch der Kindesvater scheint Betreuungsanteile übernommen zu haben. So hat L… in der gerichtlichen Anhörung berichtet, dass ihr Papa lieb zu ihr sei und sie auch mit dem Papa kuschle. Der Verfahrensbeistand hat weiterhin ausgeführt, dass eine Betreuung von L… durchaus möglich ist.

(b) Der Senat teilt allerdings gleichfalls die Einschätzung des Verfahrensbeistands, wonach eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den Kindesvater nicht in Betracht kommt, da eine Geschwistertrennung zu vermeiden ist

(aa) Für M… kann dem Kindesvater nicht das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen werden. M… ist gerade einmal 1,5 Jahre alt und als Noch-Stillkind auf die weitgehende Versorgung und Nähe der Kindesmutter angewiesen. M… wurde vom Kindesvater bislang allenfalls geringfügig betreut, eine ganz besondere Nähe und Vertrautheit zum Vater sieht der Senat bislang nicht. So hat auch der Kindesvater gegenüber dem Verfahrensbeistand geäußert, seine Beziehung zu M… sei nicht so eng, M… sei bislang immer bei der Kindesmutter gewesen. Jedenfalls im summarischen Verfahren kann dem Kindesvater das Aufenthaltsbestimmungsrecht für M… nicht übertragen werden. Das Risiko einer erheblichen Belastung des Kindes bei einem Aufenthalt im Haushalt des Vaters ist derzeit nicht abzusehen. Bei M… ist zudem die persönliche Betreuungskontinuität durch die Mutter weit wichtiger als die Kontinuität des bisherigen sozialen Umfelds, das M… schon angesichts ihres sehr jungen Alters letztlich weniger stark wahrnehmen konnte.

(bb) Geschwister können sich gerade in Trennungsfällen gegenseitig stützen (Salzgeber, Familienpsychologische Gutachten, 7. Aufl., Rn. 1229), weshalb den Kindern ein Maximum des bisherigen Beziehungsgeflechts erhalten bleiben muss (Johannsen/Henrich/Althammer/Lack, 7. Aufl. 2020, BGB § 1671 Rn. 73 m.w.N. aus der Rechtsprechung). Eine Trennung der Geschwister kann nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu bejahen sein, so beispielsweise, wenn die Kinder bevorzugen, beim jeweils anderen Elternteil zu leben, wenn die Hauptbezugsperson für die Geschwister unterschiedlich war (Salzgeber a.a.O.) oder aber auch ein größerer Altersunterschied zwischen den Geschwistern besteht (Dettenborn/Walter, Familienrechtspsychologie, 3. Aufl., S. 214).

(cc) Ausgehend von diesen Grundsätzen kommt eine Trennung von L… und M… nicht in Betracht. Beide Kinder befinden sich noch in einem sehr jungen Alter und in einer sensiblen Entwicklungsphase. Dass L… eine Trennung von der Kindesmutter und ihrer Schwester ohne weiteres verkraften würde, liegt gerade nicht auf der Hand. Auch der Verfahrensbeistand weist auf die Gefahr einer Belastungsreaktion, deren Ausmaß und Intensität nicht abgeschätzt werden könne, hin. Auch hat der Kindesvater gegenüber dem Verfahrensbeistand betont, dass er eine Trennung der Kinder nicht wolle, diese vielmehr zusammen aufwachsen sollen.

(c) Dass die Kindesmutter nicht erziehungsfähig sein soll und dieser Umstand eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Kindesmutter nicht zulassen würde, erschließt sich dem Senat jedenfalls im summarischen Verfahren nicht.

(aa) Zunächst berichtet der Verfahrensbeistand über eine gewachsene Bindung der Mutter zu den gemeinsamen Kindern. Auch das Jugendamt Norderstedt hat sich einen unmittelbaren Eindruck von der Kindesmutter und den beiden Kindern verschafft. Beide Mädchen sind pädagogisch gut versorgt und an die kinderärztliche Nahversorgung angebunden; der Kinderarzt attestiert eine altersgemäße Entwicklung beider Mädchen. Die Kindesmutter betreut und versorgt die Kinder und erledigt die Anforderungen des täglichen Lebens selbständig.

(bb) Allerdings sieht auch der Senat auf Seiten der Mutter eine bestehende eingeschränkte Bindungstoleranz. Ob und inwieweit sie sich von dem Kindesvater bedroht gefühlt hat, vermag der Senat nicht abschließend zu beurteilen. Jedenfalls ist ein Wegzug mit den Kindern aus dem bisherigen Umfeld ohne vorherige gerichtliche Klärung im vorläufigen Verfahren durch Schaffung vollendeter Tatsachen sicherlich nicht kindeswohldienlich, da sie den Kontakt, insbesondere des Kindes L… zum Kindesvater abrupt unterbunden hat. Dass tatsächlich kein Frauenhaus in der näheren Umgebung bereit war, die Kindesmutter mit den Kindern vorübergehend aufzunehmen, erscheint in diesem Zusammenhang eher zweifelhaft zu sein.

(cc) Gleichwohl ist die Kindesmutter nicht in einem Umfang bindungsintolerant, der ganz erhebliche Zweifel an noch am Kindeswohl orientierten Entscheidungen aufkommen lassen würde. Schon in der mündlichen Verhandlung hat die Kindesmutter erklärt, dass sie bereit sei, in die räumliche Nähe des Kindesvaters zu ziehen, um diesem – zumindest begleitete – Umgangskontakte zu er möglichen. Weshalb der Kindesvater darauf beharrte, dass die Kindesmutter in die vormalige Ehewohnung zurückzukehren habe, ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Allein dadurch, dass sich der Kindesvater zu einem Abstandsgebot verpflichtet hätte, vermag aus Sicht der sich bedroht gefühlten Kindesmutter und deren Angst vor einer technischen Überwachung nicht geeignet gewesen sein, ihre Schutzbedürftigkeit zu gewährleisten. Jedenfalls im summarischen Verfahren hätte sich ein Umzug in die Nähe der vormaligen Ehewohnung angeboten. Weiterhin hat die Kindesmutter immer wieder gegenüber dem Jugendamt und dem Verfahrensbeistand betont, dass sie den Umgang, wenngleich jetzt nur noch begleitet, zulassen werde. Angesichts ihrer Intention, dem Kindesvater von sich aus wegen ihrer behaupteten Schutzbedürftigkeit weder ihre Telefonnummer noch ihre Adresse zukommen zu lassen, hätte es der Kindesvater selbst in der Hand gehabt, über die zuständigen Stellen einen Umgangskontakt anzubahnen. Sofern der Kindesvater behauptet, er bzw. sein Verfahrensbevollmächtigter hätten sich bei den zuständigen Stellen vergeblich um eine Initiierung von Umgangskontakten bemüht, können etwaige Missverständnisse oder Versäumnisse der Jugendämter nicht zu Lasten der Kindesmutter gehen. Notfalls hätte der Kindesvater ein gerichtliches Umgangsverfahren einleiten können. Jedenfalls sieht der Senat gegenwärtig keine Anhaltspunkte, dass sich die Kindesmutter vehement gegen jede Form des Umgangs sperrt.

3.

Abschließend weist der Senat ergänzend darauf hin, dass immer anhand einer Würdigung der gesamten Umstände des konkreten Einzelfalls zu prüfen ist, ob eine einseitige Veränderung des Aufenthalts der Kinder hinzunehmen ist. Im Regelfall wird bei Kindern, die bereits durch beide Elternteile hinlänglich betreut worden sind und die eine stabile Beziehung zu jedem Elternteil aufweisen, insbesondere nicht mehr zwingend auf die persönliche Betreuung durch einen Elternteil angewiesen sind, ein Aufenthalt beim verbringenden Elternteil nicht in Betracht kommen. Der Senat nimmt daher die Äußerungen des Verfahrensbevollmächtigten des Kindesvaters mit äußerstem Befremden zur Kenntnis, wonach er Mandanten empfehle, es so zu machen, wie die Kindesmutter, nämlich „einfach mal so zu verschwinden, einige Zeit vergehen zu lassen und dann das Abnicken der Situation durch das Gericht abzuwarten“.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG, die Festsetzung des Verfahrenswerts auf §§ 45, 41 FamGKG.

OLG Stuttgart, Beschluss vom 10.02.2023
15 UF 267/22

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